Dream Theater - The Astonishing

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VÖ: 29.01.2016
Bandinfo: DREAM THEATER
Genre: Progressive Metal
Label: Roadrunner Records
Lineup  |  Trackliste

Da ist es nun, das meistgehypte Album der DREAM THEATER Bandgeschichte. Für jeden zugänglich. Soll heißen: Wenn ihr diese Rezension lest, dann habt ihr selbst bestimmt schon den ein oder anderen Spin von "The Astonishing" hinter euch. Schon jetzt ist klar, dass es als das am stärksten polarisierende Werk in die Bandhistorie der New Yorker eingehen wird, aber auf alle Fälle auch als das ambitionierteste. Und das will bei einer Band, die selten Easy Listening präsentiert und uneinstimmig die besten Musiker der Welt in ihren Reihen begrüßt ganz schön viel heißen. "The Astonishting" begeht in der Metalszene ganz neue Wege und ist dabei weit weniger progressiv im wortwörtlichen Sinn als es den Anschein macht. Klar ist auch, dass es sich einer einseitigen Wertung absolut entzieht, da es so viele unterschiedliche Ebenen anspricht, welche nicht mal eben in einer Gesamtnote gebündelt werden können. Fest steht aber eins: "The Astonishing" ist ein weiterer Geniestreich und wird vermutlich noch viele Jahre im Gespräch bleiben.
 
Zunächst soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass in dieser Rezension keine Nacherzählung oder Beurteilung der zu Grunde liegenden Geschichte erfolgen wird. Das Konzept geht weit über das Vorranschreiten eines geradlinigen Plots hinaus, vielmehr erinnert das Ganze an ein literarisches Gesamtkonzept. Vor etwa zehn Jahren haben RHAPSODY OF FIRE mit "Symphony Of Enchanted Lands Part II - The Dark Secret" etwas ähnliches versucht, doch aus diversen Gründen nicht zufriedenstellend zu Ende gebracht. "The Astonishing" zeigt allen anderen Konzeptalben der Musikgeschichte nun, wie es anzugehen ist und muss daher von jedem Einzelnen von euch selbst erlebt bzw. erkundet werden. Dies trägt maßgeblich zum Gesamterlebnis bei und daher verzichten wir auf inhaltliche Spoiler.
 
Da zu diesem Zeitpunkt schon einige Rezensionen durchs Netz geistern wird an dieser Stelle als erstes auf die zwei Hauptkritikpunkte eingegangen.
 
1.   Die Länge:
 
Stolze 130 Minuten verlangt "The Astonishing" dem Hörer ab. Und die muss man sich tatsächlich nehmen, denn mehr als alle anderen Alben aus dem Backkatalog verlangt das Stück, als Ganzes in einem Rutsch gehört zu werden. Eine Zigarettenpause zwischen den Akten ist erlaubt. "Zu lang" behauptet der Großteil der Mitrezensenten. Hier muss der Verfasser dieses Artikels deutlich widersprechen: Das Konzept verlangt diese Länge und der ein oder andere mag erstaunt sein wenn ich sage: Es wurde schon gestrafft wo es geht, und das ist nicht unbedingt positiv (hierzu später mehr). Mehr als ein Konzeptalbum möchte "The Astonishing" ein Gesamtwerk sein, eine (Rock-)Oper, welche strengen musikalischen Gesetzen folgt, die auch alle befolgt werden. Es werden Charaktere aufgebaut und Handlungen vorangetrieben, es gibt Schlachtsequenzen und Schicksalsschläge. Und letztere würden nicht die gewünschte Wirkung erzielen, wenn die Charaktere (allen voran die Hauptpersonen Gabriel und sein Vater) nicht richtig etabliert wären. Zum anderen gibt es hier kein Füllmaterial, jede Note erfüllt seinen Zweck. Anders als bei ähnlich gelagerten Konzept(doppel-)alben, bei denen oftmals atmosphärisches Geklimper in die Länge gezogen wird, geben DREAM THEATER fast durchgängig Gas. Die Band und vor allem James LaBrie sind dauerhaft zu hören und treiben irgendeine Entwicklung voran. Daher ist "The Astonishing" so lang wie nötig und hätte vor allem im Finale noch die ein oder andere Szene mehr vertragen.
 
2.   James LaBrie
 
Anders als andere Rock Oper Scheiben (welche nach "The Astonishing" keine mehr sind - sorry AVANTASIA) werden die einzelnen Charaktere hier nicht von verschiedenen Interpreten oder Schauspielern intoniert, sondern alle von James LaBrie. Und das ist tatsächlich ein großer Knackpunkt. Ich gehöre nicht zu den unzähligen LaBrie Bashern, ganz im Gegenteil. Seine Stimme ist einzigartig genug, dass sie über die ganzen Jahre zu einer der charakteristischsten DREAM THEATER Trademarks avanciert ist (auch wenn viele hiermit nicht einverstanden sind). Das Problem ist nicht, dass LaBrie alle Charaktere singt - das Problem ist, dass alle Charaktere singen wie LaBrie. Ob Männlein, ob Weiblein, ob Held oder Bösewicht, von der Gesangsstimme her ist nicht zu unterscheiden, wer in der jeweiligen Szene agiert. Das ist für die selbstgesteckten Ziele einfach zu wenig und damit die größte Schwachstelle des Albums. Auf der positiven Seite: Albumquereinsteiger erkennen zu jeder Sekunde, welche Band hier am Werke ist.
 
Dieser Kritikpunkt wird allerdings von einer großen Stärke wettgemacht, nämlich John Petrucci. Nicht nur ist er der federführende Ideengeber des Konzepts und der Musik, auch die Lyrics bzw. das Libretto stammen von ihm. Vor allem während des zweiten Aktes schafft es Petrucci, so klar zu formulieren, dass es jedem möglich sein sollte, dem Stück und dem Plot zu folgen. Daher relativiert sich obiger Kritikpunkt ein wenig, da LaBries glasklarer und akzentfreier Vortrag zum Verständnis wiederum beiträgt.
 
Kommen wir zum Kern des Albums und demzufolge dieser Bewertung, nämlich der Musik an sich. Hier werden sich die meisten Geister scheiden und hierrüber könnte schon jetzt eine ganze Abhandlung verfasst werden. Versuchen wir es kurz und knapp. Und, nein, Anspieltipps gibt es keine, das wird dem Konzept nicht gerecht.
 
Zweierlei Blickwinkel sollen an dieser Stelle beleuchtet werden.
 
1. Die Musik aus Sicht eines DREAM THEATER Fans
 
Keine Sorge: Alles, was diese Band seit Bestehen ausgemacht hat, findet sich auf "The Astonishing". Sämtliche Trademarks sind zu hören, jeder Musiker bekommt ausreichend Zeit und Platz um sich zu entfalten. Allerdings gibt es von vielem etwas weniger als gewohnt. Der Titel "Man Of The Album" aus musikalischer Sicht geht dieses mal definitiv an Jordan Rudess, da er die größte Spielzeit eingeräumt bekommt und mit seiner vielseitigen Darbietung punktet. Ob große Orchestrationen, atmosphärische Special Effects, akzentuierte Untermalung oder seine bekannten Soli - alles sitzt punktgenau. Mike Magnini zeigt erneut, dass er wohl der zur Zeit beste Schlagzeuger der Welt ist, behält aber seinen Stil der letzten beiden Alben bei. Was da heißt: Auch, wenn er zeitweise unmenschliche Leistungen erbringt, drängt er sich zu keiner Zeit in den Vordergrund. Sehr zurückhaltend agieren dagegen John Myung und John Petrucci an ihren Instrumenten. Das ist aber als notwendiges und damit löbliches Zugeständnis an das Konzept zu beurteilen.
 
Jetzt kommt ein ABER: Wer sich den hohen Verspieltheitsgrad und Abwechslungsreichtum eines "herkömmlichen" DREAM THEATER Albums wünscht, könnte enttäuscht werden. Die Band folgt - mehr als erwartet - dem  klassischen Opernmuster und etabliert seine Charaktere meist in balladesken Showstopper-Balladen, die vielen a) zu zahlreich und b) zu weichgespült klingen mögen. Eine einzige Thrash-Spitze im ersten Akt bei Seite genommen gibt es insgesamt weniger metallische Elemente als zuvor, womit nicht wenige Fans ein Problem haben dürften. Genug "WTF-Momente" und Frickelorgien sind schon vorhanden, nur eben dieses Mal immer dem Konzept geschuldet und niemals als Selbstzweck. Wer aber eh lieber den großen Melodiebögen und emotionalen Highlights der Diskografie erlegen ist, der wird in diesem Album sein Elysium finden.
 
Das führt uns direkt zum zweiten Blickwinkel, nämlich:
 
2. Die Musik aus klassischer bzw. neutraler Sicht
 
Ohne Erwartungshaltung, ohne Genrezugehörigkeit, ohne Scheuklappen, ganz neutral: Hier haben wir schon jetzt das Album des Jahres 2016 vor uns. Kein anderes Werk wird ein ähnlich hoch gestecktes Niveau erreichen bzw. umsetzen können, und es dabei noch schaffen, solch unglaublich eingängige und emotionale Momente wie in "Choices" oder "Hymn Of A Thousand Voices" abzuliefern. Nicht zu vergessen, hier wird eine Rock Oper mit Betonung auf Oper erzählt. Und so liegt uns hier kein Songbasiertes Werk zu Grunde, sondern ein zusammenhängendes Stück, welches Themen und Motive kreiert, variiert und entwickelt. So besteht vor allem der zweite Akt hauptsächlich aus Reprisen, also Weiterentwicklungen der in Akt Eins etablierten Hauptmelodien. Einziger Kritikpunkt: Erzählerisch hätte das Finale, wie vorhin kurz erwähnt, den ein oder anderen Höhepunkt mehr vertragen. Nach allem Mitfiebern, nach all der aufgebauten Spannung und Dramatik wirkt das Ende überraschenderweise recht unspektakulär. Hier hätte ein letzter Knalleffekt, ein letzter Showdown oder einfach eine etwas pompösere Inszenierung den wirklich aller letzten Schliff verpasst. Jedoch ist dies Meckern auf allerhöchstem Niveau, "The Astonishing" bietet dem unvorbereiteten Konsumenten die intensivste Hörerfahrung der letzten Jahre und ist schlicht und ergreifend ein wahnsinnig emotionales Meisterwerk.
 
Ein abschließendes Fazit zu formulieren ist nicht notwendig: "The Astonishing" MUSS von jedem Musikliebhaber gehört werden. Es wird polarisieren, es wird diskutiert werden, es wird aber auch bewegen, aufwühlen und begeistern. Die unten stehende Note ist ein vorläufiger Kompromiss und eine Momentaufnahme des Verfassers, welche sich im Laufe des Jahres sicherlich noch ändern wird. Lasst euch einfach auf dieses Spektakel ein, es lohnt sich!
 


Bewertung: 4.5 / 5.0
Autor: Christian Wilsberg (11.02.2016)

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