Amoral - In Sequence

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VÖ: 05.02.2016
Bandinfo: AMORAL
Genre: Progressive Metal
Label: Imperial Cassette Records
Lineup  |  Trackliste

Lasst uns mit einem Zitat beginnen: „Solange man immer das Gefühl behält, dass man sich verbessert und etwas Neues schafft, ist alles gut. Ich würde das Gefühl hassen, wenn der Gedanke aufkommt, „das Album davor war besser als das Neue“! Diese Worte stammen von AMORAL-Mastermind Ben Varon selbst, nachzulesen im Interview zum Vorgänger "Fallen Leaves & Dead Sparrows". Wenn das keine Aufforderung zu einer eingehenden Prüfung ist?

Jetzt kenne ich blöderweise den Vorgänger nicht (eigentlich die letzten drei Vorgänger), dafür aber die ersten drei Alben der Progressive Metal-Band umso besser. Mit ihrem technisch höchst anspruchsvollen, Suomi-typischen melodiösen Death Metal zogen mich diese schon bei Erscheinen in ihren Bann und live wusste die Band auch noch mehr als zu überzeugen. Eine Fan-Liebe war geboren. Doch dann kam "Show Your Colors". Shouter Niko Kalliojärvi war plötzlich weg, Ari Koivunen – Sieger des finnischen Starmania Ablegers 2007 [sic!] – dafür da und ich: fertig mit der Band. Eine vormals geniale Death Metal-Band hatte sich über Nacht in eine (zugegebenermaßen instrumental nach wie vor außergewöhnlich gute) unendlich langweilige, fernsehtaugliche Pseudo-Power Metal-Band verwandelt, der ich das Wort "Power" am liebsten wieder aus der offiziellen Genrebezeichnung herausgeprügelt, ach was, herausgesprengt hätte. Stattdessen aber endete die Fan-Liebe und ich trug AMORAL zu Grabe. Immer seltener wurden meine Friedhofsbesuche und hörten schließlich ganz auf, zumindest bis heute. Denn heute wage ich es. Gleichsam einer Leichenschändung werde ich nun das Grab öffnen, um den Sarginhalt zu inspizieren. Da weiß man bekanntermaßen ja nie, was dabei herauskommt.

Was sofort auffällt: AMORAL sind mit ihrem mittlerweile siebten Album "In Sequence" größer geworden. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge erfahre ich, dass der alte Shouter wieder dabei ist, als dritter Gitarrist und wahrscheinlich als metallische Stütze für die so feminin anmutende Stimme des nach wie vor anwesenden Mister Starmania – zumindest dachte ich so, bevor ich "In Sequence" überhaupt gehört hatte. Aber dazu später. Nun zur eigentlichen Prüfung. Erstens: Welche Emotionen hinterlässt der Konsum von "In Sequence" im Vergleich zu den ersten drei, dem Death Metal zuzuordnenden Alben? Zweitens: Findet AMORAL trotz Starmania-Faktor mit Niko Kalliojärvis Death-Growls wieder zu alter Größe? Drittens: Lohnt es sich für Fans der ersten Stunden überhaupt den Sarg auszubuddeln? Viertens: Werden Fans der aktuellen AMORAL die wieder integrierten Growls akzeptieren oder ihrerseits den Gang zum Friedhof antreten? Fünftens: Tritt vielleicht sogar das Worst-Case-Szenario ein und das Grab wird für alle für immer verschlossen? Um die Prüfungsangst in die Knie zu zwingen und gleichzeitig der finnischen Heimat des Sextetts Respekt zu zollen empfehle ich vor dem Hörgenuss, wahlweise ein Gläschen Wodka, Bier, Met, Siideri oder Lonkero als mentale Unterstützung. Kippis!

Der atmosphärische Opener "In Sequence (A Prologue)" beginnt schon mal sehr verheißungsvoll.  Eine sich stetig steigernde Gänsehautmelodie führt den Hörer, gemeinsam mit perfekt arrangierten Synthie-Klängen, Chören, cleanen Vocals und einem kurzen Vorgeschmack auf die Growls sanft und bedächtig, jedoch zielstrebig an das bereits als Videoclip veröffentlichte "Rude Awakening" heran. Die im Intro noch sehr dürftig eingesetzten Growls bekommen hier endlich mehr Platz und wechseln sich mit den cleanen Vocals stetig ab. Dann teleportiert einen das Album plötzlich mitten in die Wüste. "The Betrayal" beginnt mit mystischem Gesang, dazu Percussion und ein bombastisches Einsetzen der Gitarren. Der darauffolgende Blastbeat reißt einen jedoch jäh aus dieser Oase heraus. Die Wüste hat sich in eine wilde Mischung aller bekannten AMORAL-Trademarks verwandelt. Mit "Sounds Of Home" folgt dann eine äußerst ruhige, meditative Ballade, welche dazu führt, dass "The Next One To Go" anschließend umso knackiger aus den Boxen knallt. "Helping Hands" und das an alte Zeiten erinnernde "Defuse The Past" fügen sich ebenfalls ausgezeichnet ins Gesamtbild ein. Bleibt noch "From The Beginning (The Note Part 2)", mit über zehn Minuten der längste Song des Albums. Er entlässt meine Wenigkeit mit folgenden, noch unbeantworteten Fragen aus dem hervorragend produzierten, mit glasklarem Sound versehenen "In Sequence": Soll ich sofort wieder auf Play drücken, um weitere Feinheiten im Sound zu entdecken? Soll ich versuchen, das Album in eines der vielen Metal-Genres rein zu quetschen? (Die Band selbst nennt ihre Musik "Classic Rock Of The 21st Century"). Oder soll ich mein Gläschen jetzt austrinken, welches ich beim Hören komplett vergessen habe? Scheiß drauf, ich drück auf Play!

Fazit: Niko Kalliojärvi verleiht "In Sequence" wieder einen gewissen Old School-AMORAL-Vibe während Ari Koivunens Stimme in Form essentieller Melodiebögen mit der Musik verschmilzt. Die Vocals ergänzen sich nicht, sie stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander, wenn auch mit Schwerpunkt auf den cleanen Vocals, was ich mittlerweile für eine sehr gute Entscheidung halte. Schon nach wenigen Durchläufen hat sich die Leichenschändung als lohnenswert erwiesen, obwohl von einem Back To The Roots keine Rede sein kann, vielleicht aber genau deswegen. Alle aufgeschlossenen Metaller sollten sich vielleicht doch auf die aktuelleren Alben "Show Your Colors", "Beneath" oder "Fallen Leaves & Dead Sparrows" einlassen. Eventuell verpassen wir etwas. "In Sequence" hat die Prüfung jedenfalls mit Bravour bestanden. AMORAL gelingt es mit einem unglaublich vielschichtigen Mix aus traumhaften Melodien, klassischen Death-Growls, poppigen Vocals, Blastbeats, cooler Percussion und proggigen Rhythmen dennoch eingängige Hymnen zu formen und den dabei gefürchteten Kitsch meisterlich zu umschiffen. Achtung Suchtgefahr!



Bewertung: 4.5 / 5.0
Autor: Captain Critical (14.02.2016)

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