FT-17 - Marcellin sen va-t-en guerre

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VÖ: 29.01.2016
Bandinfo: FT-17
Genre: Melodic Black Metal
Label: Eigenproduktion
Hören & Kaufen: Webshop
Lineup  |  Trackliste

Rochefort, 3. August 1914. C'est la guerre. Es ist Krieg. Ein Telegramm hat eine Neuigkeit bestätigt, die keine ist, da sie hier jeder erwartete. Sogar der Sommer hat resigniert und zögert mit seiner Rückkehr. Doch es gibt keine Zweifel, dass der Krieg ruhmreich sein wird. Um mich herum ist jeder überzeugt, dass wir Weihnachten in Berlin verbringen werden. Ein merkwürdiger Optimismus. Ich habe mich entschlossen zu schreiben und die Ereignisse für meine Nachkommen in einem Tagebuch festzuhalten. Ich heiße Marcellin Trouvé. In meinem zivilen Leben bin ich Lehrer in einem kleinen Dorf in der Charente. Im Herbst wäre mir meine Klasse zugewiesen worden, gleich nach meiner Rückkehr vom Militärdienst. Aber es ist Krieg und die Kinder kommen ohne Zweifel eine Zeitlang ohne mich aus, denn es erwartet mich eine ungewöhnliche Reise. Revanche! Für Frankreich! Ich werde die dreckigen Deutschen jagen. Stolz in meiner blauen Uniform, mit funkelnden Augen, gepflegtem Schnauzer und einem freudigen Lächeln in meinem Gesicht wirke ich wie ein Portrait auf Glanzpapier. Wie schade, dass dieses Foto für niemanden bestimmt ist. (kursiv: sinngemäße Übersetzungen.)

Nantes, 2016. Melodic Black Metal ist schon lange erfunden. Fünf schneidige, jedoch unerfahrene Panzerfahrer aus dem Westen Frankreichs wählen ihr Gefährt, den FT-17, ein in den 1920er Jahren entwickeltes und für spätere Panzerfahrzeuge prägendes Panzermodell. Sie erklären damit der restlichen Welt den Krieg, nämlich den ersten Weltkrieg und das aus Sicht eines gewissen Marcellin Trouvé – vielleicht dem Vorfahren eines Bandmitglieds?

Da löst sich schon der erste Schuss. Das gesprochene Intro schickt den Hörer zurück ins Jahr 1914, auf die Zeitreise namens "Marcellin s'en va-t'en guerre" (Marcellin zieht in den Krieg). Am Ende von "La fleur au fusil" ertönt ein Ausschnitt der Marseillaise vom Geschützturm des Panzers. Im Verlauf der Reise werden wir außerdem mit weiteren gesprochenen Passagen aus Marcellins Tagebuch beschossen, welche dem Album eine nahezu intime Atmosphäre verleihen. Unaufhaltsam fährt indes der schnuckelige FT-17 seinen Feinden entgegen. Glücklicherweise verursacht der Beschuss des heute noch in diversen Museen stehenden Kettenfahrzeugs dabei jedoch keine Hörschäden (Kriegsverletzung Nummer eins). Das Dröhnen der Einschläge liegt vielmehr in einem angenehmen und für die Unerfahrenheit der Panzerfahrer positiv überraschenden Frequenzbereich (ausgewogener Mix, aber natürlich keine High-End Produktion).

Zwei erfolgreich geführte Gefechte später treffen wir in der Nähe der Vogesen auf die Maulwurf-Armee ("L'armée des taupes"). Diese gräbt mehr, als dass sie schießt. Schaufeln ersetzen Gewehre. Marcellin raucht, um den von Kadavern von Freunden ausgehenden, unerträglichen Gestank besser zu ertragen. Er trinkt, um die Angst besser zu ertragen. Einzig das Wissen, die Deutschen hätten es auch nicht besser, wirkt beruhigend auf ihn. Bevor wir als nächstes die Hölle von Verdun ("L'enfer de Verdun") hoffentlich erfolgreich überleben werden, ist uns ein kurzer Heimaturlaub in der Charente vergönnt, wo Marcellin ein belgisches Flüchtlingsmädchen kennenlernt (Fucking Female Vocals im letzten Song). Endlich wird er jemand anderem schreiben können, als sich selbst. Nach einem weiteren Angriff ("La charge") wird ihm am 1.Mai 1917 von offizieller Seite versprochen, die nächste Offensive sei definitiv der letzte Schützengraben ("La dernière tranchée") auf dem Weg zum Sieg. Die Briefe, die er mittlerweile erhält, sind zu einer überlebenswichtigen Droge für ihn geworden.

Der aufmerksame Leser ahnt wahrscheinlich, wie die Geschichte ausgeht (hey, es ist immer noch Black Metal!) und dem geschichtlich interessierten Black Metaller ist mit Sicherheit bekannt, dass unser lieber Freund Hein mit lächerlichen 17 Millionen Menschleben im ersten Weltkrieg deutlich weniger Opfer forderte, als im zweiten (50 bis 80 Millionen). Auch musikalisch betrachtet ist im ersten Weltkrieg weniger mehr, denn wir haben es hier nicht mit einem brachialen zweiten Weltkriegs-Geballere à la MARDUK zu tun, sondern werden von FT-17 in ein trauriges, doch zugleich optimistisches Frankreich von 1914 geführt (Piano-Begleitung und Akustikgitarren inklusive). Ein sehr ambitioniertes und gelungenes Debut-Album, das unbedingt als Ganzes (Konzeptalbum!) genossen werden sollte. Wem sowas zu schwer ist, der nehme sich nachfolgende Anspieltipps zu Herzen. Ach ja, Französisch-Kenntnisse sind natürlich auch nicht von Nachteil.

Anspieltipps:

  • L'armée des taupes: Der beste Song des Albums
  • La dernière tranchée: Der emotionalste Song des Albums
  • L'enfer de Verdun: Hörbeispiel, siehe unten



Bewertung: 4.0 / 5.0
Autor: Captain Critical (23.02.2016)

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