TACTUS - Bending Light

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VÖ: 07.10.2016
Bandinfo: TACTUS
Genre: Progressive Metal
Label: Eigenproduktion
Lineup  |  Trackliste

Progressive Metal hat ja oftmals eine etwas eigenwillige Marke. Doch was die Kanadier TACTUS auf der neuen Scheibe „Bending Light“ veranstalten, gibt Eigenwilligkeit eine neue Marke. TACTUS geben nicht viel auf die schöne Konst mancher Bands, allen gefällig zu sein. Es gibt auch schräge Töne, die durchaus ihre Berechtigung haben, großartiges Gefriemel an den Saiten und ein ausgiebiges Wechselspiel in Rhythmus und Intensität. Die Kompositionen der Kanadier arten nicht ungern in Vielfalt aus. Da wird krachender Fast-Forward-Sound mit Screams/Clear Vocals-Gemisch aufgewärmt, dann flaut die Sounddichte schon fast auf minimalistisches Niveau ab, setzt zu gemütlichen Passagen an, ehe die volle Prog-Bandbreite erneut zuschlägt. Diese Grundbausteine sind in den Songs von „Bending Light“ wie der rote Faden, der sich wie eine brennende Lunte durch das Album zieht – man stelle sich dies bildhaft vor: ähnlich rasant, treibend und wild fühlt es sich an, sich die Scheibe anzuhören. Ohne große Verschnaufpause und auf den großen Knall wartend. 

Scheinbar spielt sich jede Band, die etwas auf sich hält, heutzutage mit einem Intro warm. So auch TACTUS, die ihr Album „Bending Light“ mit „Anamnesis“ beginnen. Und beinahe wird der Hörer dabei fehlgeleitet. Sanfte, vereinzelt gestreute Klänge und Chord-Zerlegungen lassen eher auf Prog-Rock-Ambitionen vermuten, die in die DREAM THEATER-Richtung drängen. Doch damit weitgefehlt. „Aurora“ startet ordentlich durch. Staccato-Melodielinien, dazu klarer Gesang, der weniger an fröhliche Power erinnert, sondern mehr Tragik und Dramatik innehat, gemischt mit Scream-Vocals, wann immer der Sound noch drückender, durchdringender getrimmt werden soll. Dass der Song nach wenigen Takten direkt ins Gegenteil gedrückt werden kann, wird direkt bewiesen, wenn sich die klaren Vocals sanfter geben und somit die komplette Klangwolke abschwächt, das Staccato verschwindet und sanften, getragenen Klängen weicht. 
Die komplette Palette an Song-Verbastelungen und Stil-Elementen, die allein im ersten Track Platz finden, sind als Hauptthema über das gesamte Album gestreut. Interpretationen, Adaptionen und Intensivierungen sind ja überall erlaubt. Eines aber ist sicher: TACTUS macht sich den Prog nicht einfach – wenn man in diesem Genre überhaupt von Einfachheit sprechen kann. 
„Scimitar“ zeichnet sich durch so einige schräge Tonfolgen aus, die sich gleichzeitig aber unwiderruflich in die Gehörgänge krallen. Der Wiedererkennungswert eines Tracks kann auch auf diese Weise gewährleistet werden. „All Roads“ schmeichelt sich dann wie eine Erholung an. Getragene Melodien und das Zurücknehmen von Power-Elementen halten allerdings nicht sehr lange an und TACTUS basteln wieder mit ihrem wechselnden Chaos an Gemächlichkeit und aufreibender Virtuosität und Kraft, die sich mehr und mehr zuspitzen. All diese Elemente lassen sich bei „Feast or Famine“ und „Colossus“ wiederfinden, die sich vor Tongewitter kaum noch retten können. „Goliath“ wartet immerhin mit einer ausgedehnteren Verschnaufpause im Sinne eines fast schon funkig-jazzigen Mittelteils auf, ehe die Steigerung auch diesen Song packt und dieses Mal in verträumtere Gitarrenlinien mündet. Wer allerdings glaubt, TACTUS hätte zu Anfang das Pulver schon verschossen und wäre nun auf gemächliche Rausschmeißer aus, hat sich gewaltig getäuscht. „Cardinal“ kracht wieder auf bekannte Weise und baut zusätzlich noch schwer stampfende Elemente mit ein. „Red and Ivory“ gestaltet sich als nur minimal ruhiger und den Rausschmeißer „King in the Sky“ bekommt man mit nur einem Mal durchhören ohnehin nicht gepackt. Geschlagene 14:32 sind für dieses Hörereignis anberaumt und die Band hat nicht vor, auch nur eine Sekunde zu vergeuden. Hier lassen sich die Kanadier Zeit im Aufbau und der Ausarbeitung der Elemente. Es muss nichts mehr in mickrige sechs Minuten gequetscht werden. Derartige Monster-Songs scheinen TACTUS also zu liegen. Und trotzdem werfen sie auch am Schluss noch einmal alles in den Ring, was die Kompositionen hergeben. Ein Werk dieser unglaublichen Dichte ist nichts für seichte Musikerohren. 

An Virtuosität und Komplexität mangelt es TACTUS ganz bestimmt nicht. Durch die aufreibenden Elemente, die schnellen Wechsel und die vielen zusammengestückelten Einheiten wirkt der Sound insgesamt allerdings sehr wild, kommt niemals wirklich zur Ruhe, fühlt sich manchmal gar ein wenig chaotisch an. Dies ist mit Sicherheit bezweckt und hat sein Ziel erreicht. TACTUS lässt den Hörer allerdings keineswegs zu Atem kommen, rauscht mit rasantem Tempo durch die Songs. Dies mag für den ein oder anderen zu dicht, zu drückend wirken, gerade, wenn man zwischendurch auf die rar gesäten Harmonien und Simplizitäten wartet, um ein wenig herunterzukommen. Darauf verzichtet die Band aber weitgehend. Trotzdem kann jeder eingefleischte Prog-Fan durchaus ein Ohr riskieren – oder zwei. Es lohnt sich auf alle Fälle. 



Bewertung: 3.5 / 5.0
Autor: Lisi Ruetz (17.10.2016)

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