A Personal Tribute To Ian Fraser "Lemmy" Kilmister 24.12.1945 - 28.12.2015

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Reini Reither - Seite 1
Stefan Baumgartner - Seite 2
Robert Fröwein - Seite 3
Thomas Patsch - Seite 4
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Daniel Laich - Seite 6
Christian Wilsberg - Seite 7


Die fleischgewordene Integrität

Was für ein würdiges Ende. Besser hätte es kein Drehbuchschreiber verfassen können. Kurz nach seinem 70. Geburtstag, genau zum 40-Jahre-Jubiläum seiner Lebensband MOTÖRHEAD, im Rücken das brettstarke neue Werk „Bad Magic“, mit dem er in seinem Lieblingsland Deutschland erstmals auf Platz eins der Albumcharts kam und am 11. Dezember direkt im Herzen dieser Nation, in Berlin, sein letztes Konzert der komplett und korrekt abgeschlossenen Europa-Tour spielte. Es sollte der endgültige Live-Abgesang von Lemmy Kilmister werden, der am 28. Dezember in seiner Heimatstadt L.A. während des Zockens seines Lieblings-Computerspiels die ewige Ruhe fand. Ein ziemlich cooles Ende für den letzten Rocker der Musikwelt, der so sehnlich auf der Bühne in die ewigen Jagdgründe einziehen wollte, aber immerhin die zweitbeste Möglichkeit des Sterbens geschenkt bekam.

Ab den frühen Morgenstunden des 29. Dezember brach auch meine Facebook-Timeline in kollektiver Trauer aus. Weitaus ärger als ein Jahr davor bei JOE COCKER oder der hiesigen Legende UDO JÜRGENS – gut, das liegt wahrscheinlich eher an der Art meiner FB-Freunde und Like-Seiten, als an der tatsächlichen Wichtigkeit, doch können GIFs und Memes im heutigen Zeitalter irren? Lemmy war Gott, Lemmy ist Gott, ein Jackie-Cola auf die große Legende (die aus gesundheitlichen Gründen längst nur mehr Wodka-Orange trank), wir saufen für Lemmy, Lemmy hätte gewollt, dass ich mir heute einen „Groben umhänge“, Lemmy war mein Freund, mein Lebensmensch, mein was weiß ich – dort, wo Ereignisse oder Katastrophen im globalen (oder biblischen) Ausmaß erfolgen, ist die gefühlte Nähe nicht weit. Heuchelei durchströmt das Internet, der kollektive Schock ist plötzlich wieder so präsent wie weiland nach dem Paris-Attentat. Moralaposteln mit erhobenen Zeigefingern deklarieren sich als unfehlbare Meinungsmacher, H&M-Shirt-Käufer haben auf einmal eh immer den Sinn des Warzengesichts verstanden und plötzlich war wieder jeder Lemmy-Fan, Lemmy-Freund, ja, in so manchen Köpfen gar Lemmy selbst. Für einen Tag ist es plötzlich scheißegal, ob jemand die gesamte Diskografie rückwärts rezitieren kann, oder einfach nur „Ace Of Spades“ kennt und da schon am Grundriff scheitert – für diesen einen Tag trägt jeder einen Trauerflor mit Pik-Ass-Emblem und vergießt virtuelle Tränen. Lemmy selbst war die fleischgewordene Integrität, ein von allen Musikern hochgeschätzter Verfechter der Loyalität, der nichts mehr verachtete als all die Blender und Möchtegern-Schockierten, die sich vor allem in den sozialen Netzwerken tummelten. Er würde einen Scheiß auf euch geben, und ihr, die ihr zu dieser Gattung gehört, wisst genau, dass ihr gemeint seid.

Bevor mir nun jemand eine falsche Predigt attestieren möchte – ich selbst bin alles andere als ein Die-Hard-Fan. Ich bin Musikfreak und Sammler, nenne jedes MOTÖRHEAD-Studioalbum mein Eigen und kann aus dem Stand weg trotzdem keine drei Songs der „Another Perfect Day“ aufsagen und werde ohne schnelle Internetrecherche kläglich scheitern, wenn mich jemand fragen würde, wann Phil Campbell genau der Band beitrat. MOTÖRHEAD existieren für mich als „Autofahr-Band“. Hie und da glitten meine Finger in den CD-Schrank, aber es blieb zu 90 Prozent trotzdem dabei, dass ich meine persönlichen Favoriten „Overkill“, „March Ör Die“ und „Bastards“ auflegte. Der Rest verstaubt meist vor sich hin, wenn mich mal ein Song packt, dann tut’s heute ja auch YouTube oder Spotify. Ich habe keine Vergangenheit mit MOTÖRHEAD, die Band hat mich in meiner Jugend nicht wie einen Außenseiter wirken lassen und ich startete damit keine innere Rebellion. Rock, Rock’n’Roll, Punk und Heavy Metal existierten für mich immer schon in friedlicher Koexistenz mit der radiotauglichen Kommerzmusik. Der eine hört das, der andere das. Whatever, scheißegal. Ich wurde in der Schulzeit durch meine Vorliebe für härtere Klänge weder angepisst, noch schäbig behandelt. Vielleicht hatte ich nur Glück, vielleicht einfach nette Klassenkollegen, vielleicht aber übertreibt so mancher einfach nur, um sein eigenes Dasein aufmerksamkeitswirksam zu dramatisieren. In der Art von: „Ich war keiner von euch. Lemmy und ich haben euch den Mittelfinger ins Gesicht gestreckt!“ Doch genau das hätte Lemmy nicht gewollt. Lemmy gehörte zur seltenen Spezies Mensch, der bei näherer Betrachtung schnell erkannte, wem er gegenübersaß. Unbequeme, aber ehrliche Zeitgenossen waren ihm lieber als biedere Opportunisten. So sagt es uns nicht nur die Legende, sondern auch Menschen, die entgegengesetzt zu den Rittern der 2.0-Welt tatsächlich in seinem Marlboro-geschwängerten Dunstkreis lebten.

Ich bin irgendwo dazwischen. Ich bin weder Die-Hard-Fan, noch heuchle ich dem König des modernen Rock’n’Roll mit übertriebener Beileidsbekundung hinterher. Das sollen die richtigen Fans machen, die es ehrlich und echt meinen.  Wie etwa unser Redaktions-Leithammel Reini. Einer der Menschen, die sich mit Fug und Recht MotörHEAD schimpfen dürfen und die auch Lemmy selbst mit Sicherheit in sein Herz geschlossen hat. Denn Lemmy ist ja schließlich Gott, und Gott weiß, welche Schäfchen es ernst mit ihm gemeint haben. Mich wird er nicht berücksichtigen und das ist gut und gerecht. Als „Durchschnitts-Fan“ der Rock’n‘-Roll-Maschinerie (und eben NICHT Heavy-Metal-Maschinerie, wie in vielen Nachrufen leider völlig falsch getitelt wird – der Meister selbst wehrte sich schließlich zeit seines Lebens gegen diese Kategorisierung) hatte ich dennoch zwei besondere Erlebnisse, die für mich unvergesslich sind. Das erste datiert mit 11. April 2014. Die große Comeback-Show, die triumphale Rückkehr des Unkaputtbaren. Am 2. August 2013 musste Lemmy das Set am deutschen Gigantonomie-Festival Wacken nach der Hälfte absagen, die Gesundheit spielte nicht mehr mit. Es war der lauteste Weckruf dessen, was bis zu seinem Tod folgen sollte. Ständige Probleme mit der Gesundheit, gepaart mit dem Zwang, auf der Bühne stehen zu müssen, denn schließlich war sie Lemmy’s Leben. Im Club Nokia seiner Wahlheimat Los Angeles fand an diesem warmen Frühlingsabend jedenfalls die große Wiederkehr statt. Lemmy war ausgezerrt, dürr und alles andere als kräftig bei Stimme. Nach dem fünften Song, „Over The Top“, musste er bereits nach draußen begleitet werden, die Kräfte haben ihn verlassen. Nicht umsonst wurden fortan immer Gitarren- und Drum-Soli in die Setlist eingefügt – der Riese wankte bereits beträchtlich, ein Ende kam aber nie in Frage. Zwei Tage vor dem denkwürdigen Auftritt beim Coachella Festival in Kalifornien lieferte Lemmy in dieser gediegenen Theateratmosphäre jedenfalls alles Menschenmögliche, um seinen Status trotz fortschreitender Krankheiten und Schwächeanfälle zu bestätigen. Bei „Killed By Death“ kam UGLY KID JOE-Frontmann Whitfield Crane auf die Bühne, selbst Lemmy’s Sohn Paul Inder präsentierte sich der Öffentlichkeit. Die Superhits „Ace Of Spades“ und „Overkill“ wurden dann von Lemmy-Freund (!) und Gitarrenheld SLASH verstärkt. Es war eine denkwürdige, legendäre, unvergessliche Show für nur 2.300 Menschen und mich würde es nicht wundern, wäre ich der einzige Österreicher dort gewesen. Purer Zufall, dass ich gerade zu dieser Zeit in L.A. war – ich weiß wohl auch heute noch nicht die Tragweite dieses Ereignisses zu schätzen, wie viele andere. Aber ich bin eben auch kein MotörHEAD, sondern nur ein Gelegenheitshörer, der einen sehr netten Abend verbracht hat und mit der Eintrittskarte prahlen kann.

Mein zweites Erlebnis datiert mit 14. Juni 2015 und war wesentlich intimer. MOTÖRHEAD spielten – das wusste ja damals noch niemand – beim Nova Rock im burgenländischen Nickelsdorf ihren letzten Österreich-Gig. Mir wurde die Ehre zuteil, 20 Minuten mit dem Großmeister persönlich plaudern zu können. Eine wirklich große Ehre, derer ich mir auch ohne übertriebenes Fantum gewahr war und bin, schlussendlich wusste ich ob seines bedenklichen Gesundheitszustands und der Tatsache, dass es wohl nicht mehr allzu viele große Festivalauftritte in seinem einzigartigen Leben geben würde. Esoteriker würden wohl flink kombinieren, wenn ich jetzt erzähle, dass justament zum Interviewstart ein kurzes, aber intensives Unwetter über dem Backstagezelt hereinbrach und meine Konversation mit dem schwachen und stets nuschelnden Lemmy noch zusätzlich erschwerte. Ausgemergelt saß der Großmeister auf einem einfachen Klappstuhl, in typischer Lemmy-Adjustierung samt Hut, mit dem programmatischen Spielautomaten auf dem Nebentisch, einem Glas Wodka-Orange, das seine alte Liebe Cola-Whisky nie ersetzen konnte, und einer Packung Marlboro, von der er mir schon eingangs eine anbot. Kurz nach meinem einjährigen Nichtraucherjubiläum lehnte ich dankend ab, wofür mich Kollege Baumgartner noch lange später schimpfte – darf man ein Gottesgeschenk ablehnen? Als Nicht-MotörHEAD wohl schon. Lemmy sprach leise, unverständlich, aber auch mit viel Witz und nicht enden wollender, freundlicher Ausstrahlung. Bei Interviews merkt man relativ schnell, ob man zum Gegenüber einen Draht findet oder nicht. Ich habe mit ihm zwar keinen großen, starken Draht gefunden, aber zumindest einen, der uns zwanglos und angenehm unaufgeregt plaudern ließ. Ob es jetzt ein Treffen mit einem wirklich großen König war, werde ich persönlich nie so richtig beantworten können. Könige sind ja schlussendlich subjektiv – und ein Rob Halford oder ein Glen Benton bedeuten mir halt mehr, als ein Lemmy Kilmister.

Es war aber auf jeden Fall eine Begegnung mit einem Menschen, bei dem man schon nach dem ersten Kontakt fühlt, dass er angenehmerweise so gar nichts mit den vielen Blendern und Möchtegern Hip(ster)-Kids des Musikbusiness zu tun hatte. Genau das macht Lemmy am Ende auch für mich zu einer Art Gott – fernab seiner Musik, die man lieben, mögen oder zumindest schätzen, aber niemals ignorieren kann. Er hat nie nach den Regeln des Establishments gespielt, ließ sich nie einseifen und stand immer seinen Mann. Wäre nur ein Promille-Anteil aller Heuchler da draußen halb so ehrlich wie er, wäre die Welt eine bessere. Mit Lemmy starb in erster Linie nicht der Rock’n’Roll-Gott, sondern ein Mensch mit einem teflonstarken Rückgrat. Und genau deshalb überstrahlt er uns alle. R.I.P.

[-ROBERT FRÖWEIN-]


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