ROCK AM RING = POP AM RING? Von wegen! - Ein Blick über den Tellerrand

Veröffentlicht am 07.06.2017

ROCK AM RING, ein Festival behaftet mit Emotionen. Seit über 30 Jahren sammeln sich Bands und Fans unter dem Banner von Marek Lieberberg, um Jahr für Jahr gemeinsam zu rocken, auch wenn sich das ein oder andere Problem in den Weg stellt. In dieser Story soll es aber nicht um Unwetterwarnungen, Terrorbedrohungen oder Wechsel der Location gehen, sondern um das Herzstück – die Musik. Wer die Social Media Kanäle des Festivals auch nur geringfügig verfolgt, der wird festgestellt haben, dass sich seit Jahren ein nie enden wollender Shitstorm von Vorwürfen gegen die Veranstalter richtet: „ROCK AM RING hat schon lange nichts mehr mit "Rock" zu tun“, „Wenn das so weiter geht, müssen die sich in "Pop/ Hip-Hop/ Charts/ (hier beliebiges Genre, das nicht trve ist, eintragen) am Ring umbenennen“, „Das Line-Up wird jedes Jahr schlechter“, und so weiter. Aber was ist denn so schlimm daran, dass sich neben IN FLAMES, RAMMSTEIN, SYSTEM OF A DOWN, AIRBOURNE, ALTER BRIDGE, GOJIRA und FIVE FINGER DEATH PUNCH mittlerweile auch MARTERIA, MACHINE GUN KELLY und RAG N´ BONE MAN tummeln? Um diese Frage zu beantworten, habe ich mal über den Tellerrand geschaut und mich bei einigen Musikern außerhalb meiner Wohlfühlzone eingefunden. Natürlich nicht nur bei diesen, deswegen wird es hier eine kleine Auswahl an Acts geben, die sich nicht im Metal-Mainstream wiederfinden, aber hier in unserer dunklen und elitären Grotte der Trveness auch etwas Aufmerksamkeit verdient hätten.

Natürlich war ich schon am Mittwoch vor Ort, aber außer einem kurzen Auftritt von DJ CRAFT (K.I.Z.) am Donnerstag gibt es nichts zu berichten, das euch etwas angehen würde – immerhin muss nicht jeder wissen, was wir so auf dem Zeltplatz treiben. Besagte Show am Donnerstag bietet aber eine gute Aussicht auf den Rest dieser Story: Wer sich vorstellen kann, zu „Disco Pogo“ einen Moshpit zu starten, bei dem sich so manche Metalcrowd noch etwas abschneiden kann, der darf interessiert aufhorchen.

Meine wirkliche Eröffnung gab es dann aber mit SKINDRED am Freitag, und was für ein Opening das war! Mit purer Energie startete die Metal-Reggae-Crossover Truppe in den Mittag und ließ sich nicht anmerken, dass ihr Slot nicht die Prime-Time war. In der Mittagssonne ging es von der ersten Sekunde an in den Moshpits ziemlich zur Sache, und spätestens zu „Kill The Power“ waren dann die ersten beiden Wellenbrecher (rund 20.000 Menschen) vollständig in Bewegung. In dieser Hochstimmung ließ sich dann auch die Wartezeit bis zu IN FLAMES verschmerzen, die ein gewohnt gutes Set abgeliefert haben und definitiv beweisen konnten, dass ihr aktuelles Album „Battles“ livetauglich ist. Leider hat der mäßige Sound des Mikros nicht mit der massiven Wirkung der Instrumente mithalten können, was den Spaß aber nur minimal getrübt hat.

Aber mal ehrlich: Wen interessiert es jetzt wirklich, was man noch zu den Auftritten von Bands der Marke IN FLAMES, FIVE FINGER DEATH PUNCH, GOJIRA und AIRBOURNE sagen könnte? Das könnt ihr auch überall sonst nachlesen. Falls es euch beruhigt, bis auf die Bombenstimmung bei RAMMSTEIN gab es während den klassischen Rock-/Metalacts keine nennenswerten Vorfälle. Viel lieber will ich jetzt darüber sprechen, wie Rock n’Roll auch andere Künstler waren; angefangen mit RED SUN RISING. Wer das großartige Debutalbum der Alternative-Rock-Newcomer kennt (wir berichteten), der dürfte alles stehen und liegen gelassen haben, um sich an der Alternastage einzufinden und „Polyester Zeal“ abzufeiern. Schnell machte sich allerdings ein Gefühl von Ungerechtigkeit breit, als ich feststellen musste, dass keine 200 Zuschauer zusammenkamen. Was für ein enttäuschendes Gefühl muss es sein, ein 40-minütiges Set vor einer winzigen Crowd abzuliefern, von der vermutlich die Hälfte noch nicht einmal etwas von der Band gehört hat? Wie viel demotivierender kann es noch werden? Was für viele Künstler vielleicht der absolute Tiefpunkt sein dürfte, nutzten RED SUN RISING, um 150% zu geben. Die gesamte Band führte sich auf, als würden sie zur besten Zeit auf der Mainstage stehen und von treuen Fans umgeben zu sein. Das Ergebnis war eine der energievollsten und ehrlichsten Shows, die ich jemals erleben durfte und während der ich zu allem Überfluss noch ein Plektrum des Gitarristen fangen durfte. Kein Wunder, dass man ROCK AM RING einen Mangel an Rock attestiert, wenn man nichts eine Chance gibt, das nicht im oberen Drittel des Line-Up’s steht.

Dasselbe gilt für den Auftritt von MACHINE GUN KELLY, einem amerikanischen Rapper, der in der Metal-Szene maximal Aufsehen durch sein Feature mit PAPA ROACH in „Sunrise Trailer Park“ erhalten haben dürfte. Wuchtiger Sound, Rockstar-Attitüde, Action in der Menge und ein tolles Set haben es geschafft, mich (der zu diesem Zeitpunkt keinen einzigen Song des Rappers kannte) vollends zu überzeugen. Da ich in Sachen ‚Rap im Alltag‘ dann allerdings doch sehr wählerisch bin, wird mich MACHINE GUN KELLY aber leider doch nicht über meine Kopfhörer und über das Festival hinaus begleiten. Trotzdem bleibt er ein heißer Kandidat für kommende Line-Ups und für mich immer wieder einen Blick wert.

Etwas bekannter dürften in unseren Kreisen PROPHETS OF RAGE sein, ein Collabo-Knaller bestehend aus Mitgliedern von RAGE AGAINST THE MACHINE, PUBLIC ENEMY und CYPRESS HILL. So unterschiedlich wie die Mitglieder war dann auch die abgelieferte Setlist, die mich aber zu jedem Zeitpunkt überzeugen konnte: Von RAGE AGAINST THE MACHINE-Klassikern, über eine CYPRESS HILL Solo-Einlage bis zu einer absoluten Gänsehaut-Performance von AUDIOSLAVE’s „Like A Stone“ als Tribut an Chris Cornell mit Serj Tankian (SYSTEM OF A DOWN) am Mikro war wirklich alles dabei. Was für eine Leistung, ein 75-minütiges Set mit nur drei eigenen Songs zu bestreiten und zu keiner Zeit wie eine Cover-Band zu wirken!

Was passiert, wenn man sich zu weit über den Tellerrand lehnt? Exakt. Man fällt kopfüber vom Teller in unbekanntes Gebiet und beschaut die Unterseite des besagten Tellers. Dass Deutschrap und Metal weniger weit voneinander entfernt sind, als es den Meisten lieb wäre, sollte bekannt sein. Umso weniger verwunderlich, dass ich mehr als interessiert an dem Auftritt von MARTERIA war – der jedoch in einem Zug mit RAMMSTEIN abgesagt wurde. Ärgerlich. Letzteren war es bekanntlich leider auch nicht möglich, ihre Show nachzuholen. Anders aber MARTERIA: Vier Stunden vor seinem geplanten Auftritt beim Schwesternfestival ROCK IM PARK machte der deutsche Rapper mitsamt Equipment kehrt, um einen der undankbarsten Slots (während ALTER BRIDGE und AIRBOURNE) wahrzunehmen und seinen Act doch noch abzuliefern. Damit ist er der erste Künstler in über 30 Jahren Festivalgeschichte, der an einem Tag sowohl am Nürburgring, als auch in Nürnberg gespielt hat. Wer das für seine Fans auf sich nimmt, der hat den Rockstar-Titel meiner Meinung nach verdient. Also ließ ich schweren Herzens beide Auftritte auf der Mainstage links liegen, da ich fand, dieses Engagement erwidern zu müssen. Und das bereue ich in keiner Sekunde! Als nach dem Intro „Roswell“ die Single „Aliens“ einsetzte, startete eine der härtesten Eskalationen des gesamten Festivals. Eine derartige Energie und Fannähe ist auf keiner Headliner-Show selbstverständlich. Und da war sie: Die böse Unterseite des Tellers. Ich in IN FLAMES-Pullover und BREAKDOWN OF SANITY-Moshshorts, darf ich das überhaupt feiern? Bin ich unter MARTERIA-Fans überhaupt willkommen? Klar sind die Fragen ironisch, natürlich war ich willkommen, und natürlich war Deutschrap kein komplettes Neuland für mich. In über einer Stunde, die MARTERIA in bester Manier weit überzogen hat, stand niemand still, der Sound der massiven Boxentürme kam kaum gegen den Gesang der Menge an. Am liebsten wäre ich zur Mainstage gerannt und hätte jeden gelangweilten AIRBOURNE-Fan an der Kutte zur gegenüberliegenden Bühne gezerrt und ihn mitten in den Moshpit geworfen. In diesem Sinne: Hört auf, in eurem Teller herumzupicken, sondern zerschmettert ihn in 1000 Teile und geht endlich zum Buffet!

Natürlich muss sich hier nicht jeder angesprochen fühlen, ihr seid doch bestimmt alle tolerant und offen für Neues. Aber bevor ihr euch beim nächsten Mal darüber beschwert, dass ein Festival ein "schwaches" Line-Up auffährt, spielt doch mal mit dem Gedanken, Neues zu entdecken und euch außerhalb der Bands aus eurem Merchandise-Bestand zu bewegen, vielleicht auch außerhalb eures Lieblingsgenres. Es könnte nämlich sein, dass ihr in eurem Gemecker eine echte Perle verpasst. 


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