30.06.2017, Livestage, Innsbruck

AGNOSTIC FRONT - 35th Years of Hardcore

Veröffentlicht am 03.07.2017

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Wo sind eigentlich die guten alten Zeiten hin, als die Jugend sich noch für ihre Ideale auf die Straße gestellt hat, sich gegen Atomkraft an Laternenpfähle gekettet und sich in Sitzkreisen gegen Krieg und für Frieden das Hirn weggekifft hat – wo sind sie hin, die Revolutionäre der Arbeiterschicht, das aufbegehrende Bürgertum? Sie sind verkommen zu Biedermännern, die sich vom Daily-Soap- und Casting-Wahnsinn verdummen lassen, während die Brandstifter den Sozialstaat, die gesellschaftlichen Werte der Aufklärung und die aufkeimende Maxime einer nachhaltigen Wirtschaft genüsslich in Brand setzen – gleichzeitig sorgt der rechte politische Populismus dafür, dass sich jene auf die Straße stellen die sich benachteiligt fühlen, vermeintlich Benachteiligte, deren geschürte Angst als Katalysator der Abwärtsspirale des Diskursniveaus genutzt wird, um politisches Kapital aus den übersteigerten Gefühlen des Pöbels zu schlagen. Und eigentlich sollten Herr und Frau Biedermeier schon längst aus ihrer, einer Lobotomie gleichenden Blase ausbrechenund sich wieder auf die Straße stellen, für Menschenrechte, gegen Rassismus, für soziale Gerechtigkeit, gegen fettgefressene Boni-Banker, für Gleichberechtigung, für Klima- und Umweltschutz! 

So funktioniert Demokratie nämlich wirklich, sie verlangt den Einsatz und das Engagement des Einzelnen, sie erfordert Initiative und sie erfordert auch, dass man angepisst sein darf und muss, wenn ein gesellschaftlicher Diskurs in eine, den Idealen der Aufklärung unwürdigen Richtung entwickelt – und ein Lehrbeispiel des angepissten Widerstandes, des Apells an die soziale Gleichberechtigung und die Grenzenlosigkeit, gibt es heute in der Innsbrucker Livestage zu betrachten! Denn heute ballern, dank Art.ill-ery Productions, die New-Yorker Urväter des Hardcore - AGNOSTIC motherfuckin FRONT - ihre Schlachtrufe durch die Alpenhauptstadt. Dies und die Tiroler/Brasilianier D-Beat-Freaks KASCHORROS WICIADOS und die Ostiroler Hardcorler GRACIOUS IN DEFEAT sind Grund genug, die Pflastersteine der Maria-Theresienstraße abzumontieren, ein paar Mülltonnen abzufackeln und dem offensiven Widerstand zu frönen. Nix für Weicheier - der abgeschleckte, Pseudocredibility-Softierocker bleibt heute präventiv zuhause! Wir hingegen schicken unseren Redaktionsterrier und Foto-Amazone Tina in die Straßenschlacht, um direkt von der Front zu berichten… Viva la Revolucion! 

GRACIOUS IN DEFEAT:
Wenn du im tiefsten Osttirol wohnst, dann muss es doch eigentlich schon wie eine weltanschauliche Offenbarung sein, wenn du dein Dorf verlassen darfst und mit AGNOSTIC FRONT in einer „Weltmetropole“ wie Innsbrooklyn auf der Bühne stehen darfst, oder? Man wundert sich auch irgendwie, wie die Jungs von GRACIOUS IN DEFEAT in ihrer ländlichen Isolation mit Hard- und Metalcore in Berührung gekommen sind – man vermutet, dass vor Jahren ein Transportflugzeug mit einer Ladung Tonträger über der unwirklichen und dünn besiedelten Heimat der Breakdown-Kapelle abgestürzt ist und so die damals noch musikalisch jungfräulichen Eingeborenen in Kontakt mit diesem ersten Signal der zivilisierten Welt kamen. Wahrscheinlich brachen dann mehrere Stammesangehörige auf, um sich weiteren Stoff von jenseits der Berge zu besorgen und kehrten mit Schellackscheiben von TERROR, HATEBREED, HEAVEN SHALL BURN und STICK TO YOUR GUNS zurück, welche dann beim kollektiven Sit-In ums Lagerfeuer des Häuptlings am, vom letzten Forscherteam zurückgelassenen, Grammophon abgespielt wurden. In Verbindung mit der eigenartigen Sprache der Eingeborenen und deren armrudernden und wabernden Kriegstanz entwickelte sich anschließend GRACIOUS IN DEFEAT – so zumindest die wissenschaftliche Theorie. 


GRACIOUS IN DEFEAT - Ostiroler Hardcore

Heute haben es die Stammeskrieger geschafft aus ihrem Reservat auszubrechen und unterhalten das anwesende, stilsicher in szenetypischer Sportbekleidung gewandete Publikum mit ihrem Schaukampf und Tanz ums Feuer. „Faszinierend“ würde David Attenborough wohl vermerken – ambitioniert buhlt der Anführer um die Gunst der Masse und noch etwas zurückhaltend verhält sich der instrumentale Anhang beim Vortrag des im klassischen Genre-Rhythmus konzipierten Liedguts. Überraschungen sucht man vergebens, den dramaturgischen Höhepunkt ebenfalls, dafür zeigt man sich ausbaufähig und durchaus mit dem Potential versehen dies mit Schweiß, Blut und Tränen noch zu nutzen, solange man sich bereit erklärt über die Zwänge des anscheinend selbst auferlegten Szenedogmas hinwegzuschauen und sich seiner eigenen Qualitäten in Verbindung mit einem Alleinstellungsmerkmal bewusst zu werden. In Kurzfassung: GRACIOUS IN DEFEAT zeigen sich heute als ambitionierter Opener mit Eigenpotential, dem die ein oder andere spielerische Verfeinerung jedoch auf dem weiteren Entwicklungsweg zum Vorteil gereichen würden.


GRACIOUS IN DEFEAT - yes, it is Cartman!

Setlist:
- Yodas Words
- My Path
- Slave To The System
- Pretty Fly
- ABC
- Faceless
- Pride
- ETHC
- Retina

KASCHORROS WICIADOS:
KASCHORROS WICIADOS, das ist, wie wenn du einen ausgehungerten Straßenköter fängst, ihn auf einen Cocktail aus Koks und Schnaps setzt und ihn anschließend am nächsten Kindergartenfest des örtlichen katholischen Jungscharvereins in der Hüpfburg aussetzt – es fliegen sprichwörtlich nicht nur die Fetzen, sondern sämtliche im humanoiden Corpus auffindbaren Gedärme durch die Pampa! D-Beat-Thrash der britischen Prägung ist das Steckenpferd der Tiroler-Freaks mit dem nicht minder abgedrehten, brasilianisch-stämmigen Fronter Rodrigo – und ebenjener entspricht keinesfalls dem Klischee vom sonnengebräunten Copacabana-Beachboy; Vielmehr ist eine Mischung aus nicht zurechenfähigen Rumpelstilzchen und Capoeira auf Speed die Ausdrucksform der Wahl. Für Freunde des gediegenen Innsbrucker Tanzsommers, wird der Performance-Act mit einer Einbindung des Publikums ins künstlerische Geschehen aufgefahren, der Zuschauer soll die Aggressivität der musikalischen Metaebene am eigenen Leib erfahren und so bekommt das Schlachtvieh im Auditorium, das Überraschungsmoment nutzend, von Fronter Rodrigo einen „Schwanensee“ präsentiert, in dem der Schwan schon zu Beginn das Zeitliche segnet und mit ihm Bierbecher und trockene Kleidung. 


KASCHORROS WICIADOS - D-Beat-Ausdruckstanz-Massaker

Trocken bleiben soll bei der stupide hämmernden Schlachtorgie – Stumpf ist wie immer Trumpf – bei Gott niemand! Wie besessen hämmert man sich, als „Speed Freaks“ outend, durch das Set und shouted die Mischung aus englischen und portugiesischen Lyrics durch die mittlerweilen temperaturtechnisch dem brasilianischen Regenwald ähnelnde Livestage, wobei sich dem Ausdruckstanz die Kampfkunst eines „Bruce Lee“ untermischt und die Zuschauer, wie die zuletzt erschienene Split-EP mit den tschechischen Hardcore-Noise-Geballerkommando KUNTA KINTE (wahlweise auf 33, 45 oder noch mehr rounds per minute abspielbar), reihenweise in einen Leichensack verfrachtet. Man dankt zutiefst für die brachiale, aurikuläre Massage, welche im Stammhirn die Löschtaste betätigt; „Mac Gyver“ wirft den Mixer an und rührt durch, bis sich eine homogene Masse aus jeder Denkfabrik gebildet hat. Es manifestiert sich wieder einmal die Weisheit des Tages: KASCHORROS WICIADOS sind neben INSANITY ALERT die Nummer eins im Heiligen Land, wenn es um orale Extraktion mit dem Vorschlaghammer geht… „Skate Or Die!“  


KASCHORROS WICIADOS - Massier mir mein Hirn! 

Setlist:
Die Setlist gestaltet sich optisch gleich der ungebündelten Brachialität der Performance und lässt sich auch nach genauer graphologischer Untersuchung nicht entschlüsseln. 

AGNOSTIC FRONT:
Die maßgeblichen Erfinder des New-York-Hardcore muss man nicht mehr vorstellen, seit 35 Jahren kotzen sich AGNOSTIC FRONT nun, rund um Gründer und Bassisten Vinnie Stigma und Front-Schreihals Roger Miret, welcher heute seinen 53. Wurftag feiert und immer noch so agressiv und agil über die Bühne wütet wie einst 1982 im Sumpf des Meltingpots der pulsierenden Metropole am Hudson-River, schon ihren mit Wut und aus sozialer Ungerechtigkeit entstandenen Mix aus ungefilterten Verlangen nach Verbesserung und Gleichberechtigung, aus ihren ungeölten, aus dem rauen Milieu der Working-Class entsprungenen Kehlen. AGNOSTIC FRONT haben sich in 35 Jahren nie einen Dreck darum geschert was der Rest der Welt über sie denkt, sich nie irgendwelchen kurzlebigen Trends unterworfen, oder sich gar an gesellschaftliche Normative des jeweiligen Mainstream-Zeitgeistes angepasst – die New-Yorker-Krawallfetischisten waren stets der Stachel im Fleisch einer selbstgefälligen Upper-Class-Gesellschaft, die sich auf Kosten des Arbeitermilieus zum reinen eigenen Vorteil bereichert. Die politische und soziale Botschaft war stets klar: Einigkeit, Zusammenhalt und Gleichberechtigung sind die Kernthemen der aus dem Oi-Punk stammenden Grundzüge der Bandphilosophie und Kompromisse werden erst recht keine eingegangen, so stellte Roger Miret einst im Rock-Hard-Interview fest: „Die Leute, die Hardcore-Musik nur hören und sich ansonsten nicht kümmern, haben das Anliegen einfach nicht verstanden!“


AGNOSTIC FRONT - 35 Jahre und immer noch angepisst!

Diese Grundeinstellung der Rebellion gegen die unverhältnismäßige soziale Verteilung des etablierten Systems wurde bis heute beibehalten und legt den Grundtenor für die musikalisch vorwärtspreschende, den Schädel eindrückende Spielweise einer angepissten Generation, die anstatt in Ruhestand zu gehen, immer noch mit Idealismus, Authentizität und ungebrochenem Kampfeswillen jeden Club bis zu seinen Fundamenten schleift. Gleiches sollte heute der Livestage widerfahren, welche sich front of stage in eine regelrechte Straßenschlacht verwandelte – zum absoluten Glück fehlten wohl nur noch ein brennender Polizeiwagen und Tränengas. [Anm. d. Lekt.: Dafür stand ersatzweise der Panzer des Krawallterriers vor der Tür.] „My Life, My Way“ ist das Motto und man lässt sich von niemanden eine gesittete Party vorschreiben, nicht wenn man „Old New York“ in Innsbrooklyn etabliert und sich die ganze Family zum gemeinsamen Moshpit-Crowdsurfing-Spektakel versammelt, wie die Upper-Class zum Truthahnfressen an Thanksgiving… nur eben um Welten cooler und härter, mit dem Springerstiefel straight in die Kauleiste. AGNOSTIC FRONT sind auch nach 35 Jahren immer noch die Speerspitze des unverwässerten, kompromisslos aggressiven, nach Luft ringenden Hardcore und lassen daran auch heute keinen Zweifel auch nur aufkeimen – die Livestage wurde heute nicht geschliffen, sondern vielmehr pulverisiert! United we stand, divided we fall - gotta gotta go!


AGNOSTIC FRONT - energiegeladener Kauleistenwalzer! 

Setlist:
- Eliminator
- Dead To Me
- My Life, My Way
- Police Violence
- Only In America
- Old New York
- For My Family
- Friend Or Foe
- Victim In Pain
- Your Mistake
- Power
- All Is Not Forgotten
- Peace
- Never Walk Alone
- Gotta Go
- Crucified
- Police State
- Take Me Back
- A Mi Manera
- Addiction
- Public Assisstance
- Blitzkrieg Bop

Unser Dank geht an Oli, Johannes und das gesamte Team von Art.ill-ery Productions, die heute wieder einmal einen reibungslosen Abend auf die Bühne gestellt haben und Innsbrooklyn, trotz widriger Umstände und gegen alle Widerstände, mit ihren Konzerten um einen kulturellen Aspekt mehr bereichern! Schon am Montag den 10.07.2017 gibt es mit FULL OF HELL (alle Infos gibt es in unseren Tourdaten) in der Livestage einen weiteren Krawallleckerbissen in der Livestage, den sich kein Freund des gepflogen Schrämhammersound entgehen lassen sollte – in diesem Sinne: For my family, for my friends!


WERBUNG: Innfield Festival
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