07.12.2019, Kulturzentrum Schlachthof e.V., Wiesbaden

BOYSETSFIRE + RAISED FIST + MARATHONMANN + ALL ELSE FAILED

Text: Lord Seriousface | Fotos: FiniMiez
Veröffentlicht am 09.12.2019

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Aufbruch

Geburtstage sind immer etwas Feines - und wenn es dazu noch um (halb-)runde Anniversitäten geht, wird meistens extra fett aufgefahren - mehr Gäste, mehr feuchte Fröhlichkeit, mehr von allem. Deshalb wundert es auch nicht, dass das heutige Tourfinale von BOYSETSFIREs "25 Years" Geburtstagsreise im Wiesbadener Schlachthof schon seit geraumer Zeit ausverkauft ist. Neben der langen Schlange vorm Einlass ist auch im Umfeld der Venue einiges los - ein kleiner Weihnachtsmarkt situiert sich vor den Toren des umfunktionierten Schlachthauses, Holzfeuer aus alten Fässern sorgt für einen sommerlichen Grillvorspiel-Duft in der Nase und eine kleine Pavillonbühne sendet Livemusik in die abendliche Dunkelheit. Doch für Glühwein und Gewürzkuchen bleibt heute keine Zeit, denn der erste Tanz des Abends lässt nicht lange auf sich warten.

ALL ELSE FAILED

Den Einstand des heutigen Abschlusskonzerts geben ALL ELSE FAILED aus Pennsylvania. Auf ihrer Facebookseite geben die Herren als Interesse lediglich "Having a good time, all the time" an - was ihr Motto augenscheinlich treffend beschreibt. Die Rezeptur aus Zucker, Koffein, Crossfit-Workouts und verschreibungspflichtigen Arzneimitteln, die zur Darbietung solcher Leistungen dienlich sein könnten, mag man sich nicht ausmalen, doch erscheint es äußerst faszinierend, mit welcher Selbstverständlichkeit die Band ihr Ding durchzieht und auf die Kacke haut. Wie auf Knopfdruck eskalieren ALL ELSE FAILED auf der Bühne und demonstrieren ein Maß an Verrücktheit, Energie und Hummeln im Hintern, das man nicht alle Tage erlebt. Dank der großklötigen PA und der amtlichen Akustik gehen die chaotischen Beats und dissonanten Riffs stante pede in die Eingeweide und provozieren leichte Herzrhythmusstörungen - wer sich unter dem Begriff "Chaoscore" bisher nichts vorstellen konnte, erhält hier einen kleinen Crashkurs, mit Betonung auf "Crash". Während das Publikum in der allenfalls halb gefüllten Halle noch recht eingefroren wirkt, zerlegen die Amis die Bühne und scheinen zuweilen zu sehr mit Eskalieren beschäftigt, als dass sie sich hierüber auch nur im Ansatz echauffieren könnten. Zwar ernten sie heute zum Dank keinen Pogo, doch immerhin ihren verdienten Applaus.

Setlist ALL ELSE FAILED:

  1. 173
  2. Did You Think Of Me?
  3. Wishful Thinking
  4. To Whom It May Concern
  5. Waterlogged
  6. Route 1

MARATHONMANN

Als regelrechtes Kontrastprogramm zum anarchischen Abriss des Eröffnungsacts präsentiert sich der Auftritt der Münchener Postcore / Punkband MARATHONMANN. Wie es scheint, sympathisierte das Tourgefährt der Ausdauersportler mit dem leckgeschlagenen Boot auf ihrem Backdrop und sorgte für Probleme bei der Anreise - vielleicht war die Wahl des Motivs ein schlechtes Omen. Doch am Ende zählt das Ergebnis und die Band erscheint fit und gestylt auf der Bühne. Erfreut darüber, dass Kapelle und Equipment schlussendlich ihren Weg nach Wiesbaden gefunden haben, feiern MARATHONMANN den letzten Tag ihrer Tour. Statt sich gegenseitig anzuschreien, singen die Jungs miteinander, Harmonie kehrt ein und auch die Bühnenperformance wirkt sehr viel beherrschter als bei ihren Vorgängern. Fronter Michi Lettner bleibt stets gechillt und baut auf Freiwilligkeit - "Ihr könnt mitmachen, müsst aber nicht" lautet die Devise. Die Hütte füllt sich allmählich, doch hält sich auch hier die Partystimmung überwiegend in Grenzen. Auch wenn die Musik der Münchener durchaus tanzbar ist und "Schachmatt" zum Ende des Sets in den Stiefeln kitzelt, entscheiden sich die meisten Anwesenden für's Zuhören. Erst zum Rausschmeißer "Die Stadt gehört den Besten" lassen sich vereinzelte Gäste zum Mitsingen animieren - na besser spät als nie!

Setlist MARATHONMANN:

  1. Totgeglaubt
  2. Flashback
  3. Wenn du dem Teufel deine Hand gibst
  4. Die Vergessenen
  5. Holzschwert
  6. Schachmatt
  7. Die Stadt gehört den Besten

RAISED FIST

Spätestens zum Auftritt der Schweden wird es kuschelig in der geräumigen Halle - es wurde auch allmählich Zeit, denn bei 21% Sauerstoff kann nun wirklich keiner arbeiten. Man mochte zeitweise befürchten, dass die anhaltende Lethargie am Ende einem ausufernden Tanz abträglich sein könnte, doch scheint das Publikum seine Energie lediglich nach ökonomischen Grundsätzen freizusetzen. Denn sowie Alle Hagman den "perfect flow" hinaufbeschwört, setzt das einem Bienenstock gleiche Gruppenkuscheln vor der Bühne ein und bewahrt die Schweden vor einer proberaum-äquivalenten Bühnenerfahrung. Wie der redegewandte Sänger zugibt, kann auch er sich nur schwer von den heimischen Polstermöbeln loslösen und fühlt sich durch Proben zur spontanen Magenentleerung angeregt [angeblich hatten RAISED FIST für die laufende Tour nur dreimal geprobt - wer's glaubt, wird schwedisch!]. Somit erlebt er vor und während der Tour eine Art multiples Martyrium, das nur durch den intensiven Kontakt mit feiernden Hardcorefans entschädigt werden kann. Die Stimmung ist gut und man fragt sich zwischenzeitlich, ob dies auf die starke Performance der Schweden oder die Alleinunterhalterqualitäten ihres Frontmanns zurückzuführen ist. Nachdem die Herren zum Ende des Sets noch eine handvoll "Anthems" raushauen und Alle Hagman das Mikro seines Gitarristen mit einem Roundhousekick der Bühne verweist, bleibt allerdings auch diese Frage ein ungeklärtes Mysterium.

Setlist RAISED FIST:

  1. Perfectly Broken
  2. Man & Earth
  3. Wounds
  4. Flow
  5. Wounds
  6. Friends And Traitors
  7. Venomous
  8. Into This World
  9. Anthem
  10. Killing It

BOYSETSFIRE

Gegen 22:00 Uhr ist es schließlich Zeit für die feuerlegenden Jungs, die mit Tanz, Gesang und erhobenen Händen empfangen werden. Räucherstäbchen bedampfen von den Amps aus den Saal, ein wohlig-schwummeriges Gefühl macht sich breit. Spätestens jetzt ist die Stimmung dem Anlass angemessen. Der Moshpit nimmt stattliche Dimensionen an, zeitweise wird sogar derart heftig gefeiert, dass die Band eine Pause einlegen muss. Als ALL ELSE FAILED maskiert die Bühne stürmen und einen flotten Freestyle-Pogo aufs Parkett legen, kann sich auch Fronter Nathan Gray nicht mehr beherrschen und muss zwischen den Zeilen beherzt lachen. Mit ihrem etwa 90-minütigen Set lassen BOYSETSFIRE kaum Wünsche offen, doch bleibt zwischendurch die Zeit für ein dankbares, öffentliches Bekuscheln der Crew und den Dialog mit dem Publikum. Wie auch Alle Hagman zuvor, referiert Nathan Gray über den therapeutischen und gesellschaftsstiftenden Wert der Musik und hinterlässt lobende Worte für die offene Kultur der Venue und ihr Engagement gegen Diskriminierung und Rassismus. Die Band erhält laute Zustimmung und mobilisiert die Crowd bis zur letzten Zugabe - interessanterweise wird "Empire" in der letzten Reihen angestimmt, bevor die Band selbst loslegt (offenbar sind heute Wiederholungstäter am Werk). Mit dem Klassiker "After The Eulogy" folgt schließlich eine letzte Gelegenheit zum gemeinsamen Auspowern, bevor die letzte Geburtstagskerze erlischt und die Jubiläumstour der Hardcore-Recken frisch gedruckt in den Geschichtsbüchern steht.

Setlist BOYSETSFIRE:

  1. Requiem
  2. Release The Dogs
  3. Closure
  4. Eviction Article
  5. Cavity
  6. Cutting Room Floor
  7. Prey
  8. Full Color Guilt
  9. Deja Coup
  10. Bled Dry
  11. With Every Intention
  12. Still Waiting For The Punchline
  13. Pure
  14. My Life In The Knife Trade
  15. Handful Of Redemption
  16. One Match
  17. Twelve Step Hammer Program
  18. Rookie
  19. Walk Astray
  20. Empire
  21. After The Eulogy

Heimkehr

Eine harte Party geht zu Ende und die beschwerliche Rückreise auf die Rückseite des Mondes bricht an. Verschwitzte Gäste strömen ins Freie, die Jungs von Viva con Agua freuen sich über (mit Pfandspenden) gefüllte Tonnen und selbst in der Sanitärabteilung im Untergeschoss sieht es aus wie nach einer kontrollierten Sprengung. Ein kleiner Zwischenstopp am Merchstand lässt noch einmal kurz über RAISED FISTs Tringeldkultur schmunzeln - nicht nur wegen des Schilds mit Aufdruck "Raised Tips" (das man auch als "erhöhte Trinkgelder" übersetzen könnte), sondern auch aufgrund der Möglichkeit, entgegen der Order "No Drinks Please..." mit Gin Tonic zu entlohnen. Mangels mitgeführter Minibar stecken wir notgedrungen etwas Kleingeld in die Kaffee- bzw. Ginkasse und machen uns auf die Heimreise.


WERBUNG: Hard
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