SUICIDE SILENCE - der "Suicide Silence"-Gangbang

Veröffentlicht am 20.02.2017

Das hier ist mindestens genauso unangenehm, wie das Gespräch zwischen Eltern und Lehrern, wenn der Erstgeborene Sprössling mit Zigaretten auf dem Schulklo erwischt wurde. Nur dass ich in diesem Fall der Lehrer bin, ihr die Eltern, SUICIDE SILENCE der Schüler, und die Zigaretten vermutlich eine hochpotente Mischung aus Heroin, Abgasen und Klebstoffdämpfen – denn anders kann ich mir das Gesamtpaket des self-titled Albums „Suicide Silence“ einfach nicht erklären.

Mein größtes Problem hier ist, dass ich einfach nicht weiß, wo ich anfangen soll. Als mit „Doris“ die erste Single veröffentlicht wurde, bin ich, wie viele andere Fans vermutlich auch, aus allen Wolken gefallen: Eine schrottige Produktion, die ihresgleichen sucht, absolut schiefe Cleans, für die ich nichts als Fremdschämen empfinde, und die Songstruktur aus der Feder eines Drittklässlers auf harten Drogen. Das Eröffnungsriff mag zwar noch an SUICIDE SILENCE erinnern, aber spätestens bei der Abmischung von Eddie Hermidas ‚Gesang‘ (und damit sind hier nicht nur die fragwürdigen Cleans gemeint) darf man beginnen, an der geistigen Gesundheit der Band und des Labels zu zweifeln, so etwas tatsächlich zu veröffentlichen. Das gesamte Album verliert einfach nicht den Charakter einer völlig zugedröhnten Jamsession, die zufällig mitgeschnitten und im Nachhinein lieblos bearbeitet wurde. Jedes Demotape meiner Garagenband war in dieser Hinsicht qualitativ hochwertiger produziert. Sieht man einmal über dieses Manko hinweg (aber ehrlich, der Produzent gehört mindestens gefeuert, wenn nicht sogar Schlimmeres), wird „Suicide Silence“ zwar immer noch nicht unbedingt zu einem guten Album, aber zumindest zu einer interessanten Hörerfahrung.

Aber dieser Hörerfahrung darf man trotzdem sehr ambivalent gegenüberstehen: Ungefähr die Hälfte der Songs vermitteln nicht unbedingt das Gefühl geistiger Gesundheit. Besonders „Hold Me Up, Hold Me Down“, „Run“, das eben erwähnte „Doris” sowie „Listen” fühlen sich ganz einfach nur an wie undefinierbarer Krach – und als Deathcore-/ Noise Rock-/ Black Metal-Enthusiast und langjähriger SUICIDE SILENCE-Fan tut es wahnsinnig weh, das sagen zu müssen. Es stellt sich die Frage, um die ich seit Beginn der Review versuche mich zu winden: Ist das neue Album der Deathcore-Ikone SUICIDE SILENCE absoluter Müll? Nein. Aber ist es ein gutes Album? Ebenfalls nein. Die Frage darauf, was mir an dem Album nicht gefällt lässt, sich einfach beantworten: Die Produktion, die fast schon lächerlich plakativ wirkenden Songstrukturen, die wohl an (die mir ebenfalls nicht sympathischen) DEFTONES erinnern sollen, die Frechheit, einen solchen Stilbruch als self-titled zu verkaufen sowie die gesamte PR rund um das Release, in der Fans auf Twitter und Facebook persönlich für ihre Kritik beleidigt werden und die Band sich scheinbar nur über den Hate ihrer Fangemeinde amüsieren kann. Mir ist vollkommen schleierhaft, wie man seine eigene Lebensgrundlage so derartig mit Füßen treten kann. Schwieriger ist es darzustellen, was mir an „Suicide Silence“ gefällt: Ich mag vor allem das Statement hinter dieser 180 Grad Stilwende, ungeachtet davon ob mir die Musik nun gefällt oder nicht. Das Genre tritt auf der Stelle und braucht dringend frischen Wind. Das Album tritt jeder einzelnen Konvention vors Schienbein; sei es die Produktion, der Stil oder auch dass es nur neun Tracks gibt. Leider ändert diese Message nichts daran, dass das Gesamtwerk kaum die Platte wert ist, auf die es gepresst wird. Mit „Silence“, „Conformity“ und „Don’t Be Careful, You Might Hurt Yourself” haben es gerade einmal drei halbwegs ansehnliche Songs auf das Album geschafft – aber auch das rettet den Gesamteindruck einfach nicht.

Wie Frontmann Eddie Hermida treffend herausstellt, steht das Genre vor neuen Herausforderungen und muss sich einem gewissen Wandel unterziehen, um nicht auszusterben. Wer sich allerdings nur ein klein wenig mit der Szene auskennt und auch einige interessante Newcomer auf dem Schirm hat, wird schnell feststellen, wie beschränkt und elitär die Selbstdarstellung von SUICIDE SILENCE hier ist. Eine Band, die es sich auf die Fahne schreibt, den Deathcore zu retten und Vorreiter einer neuen Entwicklung zu sein, hat sich scheinbar noch nie von MAKE THEM SUFFER, CODE ORANGE, BLACK TONGUE oder BETRAYING THE MARTYRS gehört, die alle aus ihrem Genre wesentlich mehr gemacht haben, als es war. Was SUICIDE SILENCE hier betreiben, ist die Verkörperung des Ausspruchs: „Es gibt keine schlechte Presse.“ Denn auch wenn Band und Label mit Hass überschüttet werden, am Ende des Tages füllt auch das die Kassen. Und noch mehr als das Album an sich stößt mir diese Tatsache auf.

Auf die Frage: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ kann man hier also getrost mit „Das kann ruhig weg“ antworten.

2 von 5 Punkten / Lucas Prieske


Inhaltsverzeichnis:

Seite 1: Einleitung
Seite 2: Jazz
Seite 3: Lucas Prieske
Seite 4: Mike Seidinger
Seite 5: Anthalerero
Seite 6: Das Fazit


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