Interview: Eluveitie - Chrigel Glanzmann

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Wenn ich in Amerika immer dieses „Zuckerwatten-Brot“ runterwürgen muss, dann denke ich mit Wehmut an meine Stamm-Bäckerei in Winterthur zurück. - Chrigel über die kulinarischen Vorzüge der Schweiz..

Kurz vor der Abreise zu einer 35 Städte umfassenden US-Tour, klingelt Mastermind Chrigel Glanzmann von der schweizerischen Folk-Death Institution ELUVEITIE bei mir durch, erzählt spannende Details zum neuen akustischen Vorschlaghammer "Helvetios" und setzt zu einem höchst amüsanten Exkurs über schweizerische Geschichte und eigene kulinarische Vorlieben an...

Text: symX
Veröffentlicht am 02.02.2012

Beim schweizerischen Folk-Death-Kollektiv ELUVEITIE geht es momentan Schlag auf Schlag! Nachdem man mit der letzten Scheibe 2010 beeindruckende Chartserfolge verbuchen konnte und in den letzten beiden Jahren praktisch ununterbrochen weltweit getourt ist, legt die Combo nun mit „Helvetios“ („Helvetier“) bereits ihr fünftes Langeisen nach. Zudem ist man schon wieder auf dem Sprung zu einer beeindruckenden 35 Städte umfassenden US-Tour, welche im Frühling nahtlos in die Pagan-Fest-Tour übergehen wird, auf welcher die Eidgenossen als Headliner abdrücken werden.

Dementsprechend gutgelaunt klingelt Mastermind Chrigel Glanzmann bei mir durch und hat auch auf Anhieb eine logische Erklärung für den Erfolg seiner Truppe:

„Ja, wir sind einfach extrem gut, haha! Nein mal ernsthaft – ich finde es einfach wirklich etwas Schönes, dass auch in der heutigen Zeit – trotz Internet und gewaltigen Marketing-Maschinerien – immer noch der Hörer selbst entscheidet, ob er die Musik kauft oder nicht. Klar, du kannst als Musiker probieren, den Job möglichst gut zu machen, du kannst versuchen alles zu geben. Aber alles andere liegt schlussendlich immer noch in der Hand des Betrachters bzw. Hörers.“

Wer nun aber denkt, dass die Jungs und Mädels bei den Schweizer Banken unlängst zu den Grosskunden zählen, hat sich getäuscht:

„Wir können zwar knapp von der Musik leben. Aber de facto lebt jeder von unserer Band unter dem offiziellen Existenzminimum. Das liegt aber vielleicht auch daran, dass wir insgesamt 8 Musiker sind, haha. Aber wir sind natürlich sehr dankbar dafür, dass wir das machen können, was wir wollen!“

ELUVEITIE zeigen sich auf ihrem neusten Werk vielfältig, spannend und mitreissend. Man bekommt tatsächlich das Gefühl, dass die Musik der Helvetier im Altertum genau so geklungen haben könnte – hätten diese damals schon Stromgitarren gekannt. Diese fühlbare Authentizität kommt denn auch nicht von ungefähr, wie Chrigel erzählt:

„Nein, ich glaube nicht, dass ich in einem früheren Leben tatsächlich als Helvetier auf dem Schlachtfeld bei Bribacte (Ort, an dem die Helvetier 58 v. Chr. von den Römern vernichtend geschlagen wurden) stand, haha. Aber ich habe bei der Entstehung von „Helvetios“ sehr eng mit Wissenschaftlern und Historikern zusammengearbeitet. Wir erzählen auf der Scheibe mehr oder weniger chronologisch die Geschichte des Gallischen Krieges, welcher vor ca. 2000 Jahren stattgefunden und knapp 10 Jahre gedauert hat. Es war eine Serie von Kriegen zwischen dem römischen Reich und gallischen Stämmen. Das römische Imperium fiel in Gallien ein und begann damit, gallische Stämme zu unterwerfen.“

Chrigel belässt es auf dem ersten Konzeptalbum der Bandgeschichte aber nicht einfach bei einer oberflächlichen Betrachtung eines weiteren Krieges der Weltgeschichte:

„Die Auseinandersetzung mit dieser Thematik war geprägt von Hinterfragen und sich reinfühlen. Wenn man sich mit Geschichte beschäftigt, ist es meiner Meinung nach wichtig, dass man sich nicht nur auf die gegebenen Tatsachen stützt. Ich habe mir immer vor Augen geführt, dass dahinter Individuen standen, wie Du und ich, die letztendlich die Geschichte geprägt haben. Ich habe mir aufgrund der geschichtlichen Fakten die Frage gestellt, was diese bei den einzelnen Personen emotional ausgelöst haben. Das kommt in unseren Texten sehr stark zum Tragen.“

Dass der Frontmann mit Herz und Seele am Werk ist, merkt man nicht nur beim Hören seiner neusten Scheibe, sondern auch im Gespräch selbst, wenn er mit Enthusiasmus von der Entstehung der Tracks erzählt:

„Gerade der Song „Alesia“ hat mich beim Songwriting extrem berührt. Es war eine von vielen Nachtschichten – Morgens um 5 Uhr wurde ich fertig mit dem Text und hatte wirklich Tränen in den Augen. Ich habe mich dabei sehr mit der Thematik auseinandergesetzt und sie ging mir wirklich sehr nahe. Ich denke denn auch, dass man der Geschichte nur dann näher kommt, wenn man nicht nur die Geschichtsbücher wiedergibt, sondern versucht, das Menschliche und Emotionale aufzuzeigen. Das ist es, was die Hörer des Albums dann schlussendlich auch berühren wird.“

Der lateinische Name der Schweiz, Confoederatio Helvetica, nimmt Bezug auf den antiken keltischen Stamm der Helvetier, der im schweizerischen Mittelland und in Teilen Süddeutschlands siedelte. Die Erinnerung an dieses Volk, dessen Spuren sich im Frühmittelalter durch Romanisierung und Vermischung mit germanischen Einwanderern verlieren, blieb durch seine besondere Rolle im Bericht von Julius Cäsar über den Gallischen Krieg im kollektiven Gedächtnis der Schweiz haften. Trotz der Auseinandersetzung mit der Geschichte der Helvetier und des Bandnamens ELUVEITIE („Ich, der Helvetier“) hat Chrigel zum Begriff „Patriotismus“ aber ein gespaltenes Verhältnis und interpretiert diesen eher kulinarisch:

„Meiner Meinung nach ist Patriotismus ein merkwürdiges Konstrukt. Ich würde mich selbst zwar durchaus als patriotisch bezeichnen, aber nicht im herkömmlichen Sinne. Ich kann mich über gewisse Dinge, die es in der Schweiz gibt, zwar durchaus freuen und kann auch froh und dankbar sein. Wenn ich zum Beispiel in Amerika immer dieses „Zuckerwatten-Brot“ runterwürgen muss, dann denke ich mit Wehmut und Stolz an meine Stamm-Bäckerei in Winterthur zurück, haha, Aber stolz im patriotischen Sinne bin ich nicht auf die Schweiz – auf was soll ich denn stolz sein? Ich habe ja nichts dazu beigetragen. Zudem ist der Zusammenhang zwischen der Band und Patriotismus sowieso eher holprig. Ich kann zwar als Schweizer patriotisch sein, aber mit den Helvetiern hat das ja kaum etwas zu tun. Bis zu einem gewissen Grad sind die Helvetier ja schon unsere Vorfahren und haben eine Menge Erbe hinterlassen, die uns auch heute noch prägen. Aber einfach zu sagen, Helvetier = Schweizer, ist historisch falsch.“

Obwohl sich Chrigel auch bei der neusten Platte hauptsächlich für Konzept und Musik verantwortlich zeigte, sieht er sich nicht als musikalischer Banddiktator:

„Es stimmt schon, früher habe ich den Bandmitgliedern die Songs fixfertig zum Einüben vorgelegt. Ich habe darin praktisch jeden Ton festgelegt. Wir waren ja ursprünglich eine Art Ein-Mann-Projekt mit sieben Gastmusikern. Wir wurden aber über die Jahre hinweg eine Band und sind sowohl persönlich als auch musikalisch zusammengewachsen. So hat sich auch die Entstehung der Songs verändert. Ich schreibe diese zwar immer noch grösstenteils selbst, lasse den Bandmitgliedern aber Freiraum zum Ausfeilen. So erarbeite ich mittlerweile einen Grossteil der Songs bzw. der Arrangements zusammen mit Ivo (Gitarrist).“

Auch wenn ELUVEITIE nun an einer Schwelle angelangt sind, wo noch grössere Erfolge winken, kommen für Chrigel weitergehende kommerzielle Zugeständnisse nicht in Frage:

„Natürlich ist das ein Thema mit dem man konfrontiert wird. Man könnte durchaus sagen, wenn Anna öfters singen würde, dann käme das offenbar bei einer breiteren Masse an. So bin ich mir durchaus bewusst, dass viele Leute von meinem Schreigesang etwas zurückschrecken. Dann hätten wir im Endeffekt zwar vielleicht einen Haufen neuer Fans. Aber auf der anderen Seite würden wir dann auch wieder viele Fans verlieren, die eben die Growls mögen. Es wird doch immer wieder Leute geben, denen man es nicht recht machen kann. Schlussendlich müssen wir selbst Freude an den Songs haben – denn wir stehen ja damit das Ganze Jahr auf der Bühne und müssen sie spielen – und wenn die uns nicht gefallen, dann haben wir ein Problem. Wenn uns das was mir machen keinen Spass mehr macht, dann können wir gerade ganz aufhören.“

In diesem Sinne dürfen wir also weiterhin authentische und leidenschaftliche Musik und Gigs von ELUVEITIE erwarten, wie mir Chrigel versichert:

„Definitiv! Und die kommende Paganfest-Tour wird sehr, sehr geil! Wir werden alles geben, einen Grossteil des neuen Albums spielen und zusammen mit der Meute abgehen! Das wird eine coole Sache, wir freuen uns darauf!“.

Dem kann ich mich nur anschliessen: Wir freuen uns auch!


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