Interview: JUDAS PRIEST - Glenn Tipton

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Es geht nie darum etwas zu spielen, nur weil man etwas kann, sondern damit man den gesamten Song damit aufwertet.

Eine Audienz bei den Metal-Legenden JUDAS PRIEST ist natürlich immer etwas Besonderes - vor allem dann, wenn Gitarrero Glenn Tipton bester Laune und mit Corona in der Hand zum Erzählen und Schmähführen beginnt und ein Klischee bestätigt: je berühmter der Star, desto entspannter seine Haltung. Enjoy!

Text: Robert Fröwein | Fotos: Lady Cat
Veröffentlicht am 23.12.2015

Glenn, du zählst zweifellos zu den berühmtesten Gitarristen dieser Erde, hast aber tatsächlich erst im Alter von 19 das erste Mal eine Gitarre in der Hand gehabt. Wie konnte diese Karriere sich dann noch so entwickeln?

Wir waren schon immer eine musikalische Familie. Meine Mutter spielte Klavier und mein Bruder schon vor mir Gitarre, ich habe dann mit Keyboards angefangen. Unser Haus war immer voller Musik. Wenn du jung bist, absorbierst du verschiedenste Einflüsse, auch wenn das oft unterbewusst geschieht. Ich konnte schon ein paar Akkorde vor meinem 18. Geburtstag auf der Gitarre klimpern, aber vor 19 habe ich das nicht ernst genommen. Es hat dann aber den richtigen Knackpunkt gegeben und irgendwann habe ich mein Leben diesem Instrument verschrieben. Heute starten die Kids mit vier oder fünf, aber ich war ein Spätstarter. Auch wenn ich mir das rückblickend etwas anders wünschen würde. (lacht)

Du hast dir relativ schnell einen komplett eigenen, bislang auch nicht kopierten Stil des Gitarrespielens angeeignet. War das früher, in den 70er-Jahren denn leichter als heute, wo es schon alles zu geben scheint?

Die Sache ist die, dass ich niemals ein Mann der Skalen war. Ich kannte Leute, die gingen fast schon mathematisch vor und ich war immer der gefühlsbetonte Gitarrist. Ich würde keinem Anfänger oder jungem Talent raten, sich hinzusetzen und stundenlang nur Skalen auf und ab zu spielen. Ich kann Musik lesen, wenn es um das Piano geht. Ich weiß nicht, ob ich "Beethoven’s Fünfte" jetzt einfach so runterspielen könnte, aber es ist doch recht simpel, das zu lernen. Bei der Gitarre habe ich das aber nie gemacht, da kam immer alles rein aus den Instinkten heraus. Meine Entschuldigung dafür ist einfach: Wenn du dich streng an die Skalen und Regeln hältst, kann es passieren, dass du wie jeder andere endest und einfach kein eigenes Spiel entwickelst. Du musst schon ein sehr starker Charakter sein, wenn du das Spielen am Reißbrett lernst und trotzdem einzigartig sein willst. Ich war schon immer anders, habe die Leads einfach in einen Song gepresst und oft hat das funktioniert. Glücklicherweise wurde mein Spiel dadurch charakteristisch. Zudem ist es dann auch wieder ganz anders, wenn du Gitarrist und Bandleader zugleich bist. Es gibt einfach unendlich viele Wege, sich zu entwickeln.

Ich finde es interessant, dass es von Kerry King (SLAYER) bis hin zu Scott Ian (ANTHRAX) unendlich viele Gitarristen aus dem Thrash Metal gibt, die dich als großes Vorbild bezeichnen. Warum denn gerade diese „harten Jungs“?

Ich habe keinen blassen Dunst. (lacht) Für mich ist das ein wundervolles Kompliment, wenn so viele Gitarristen von mir inspiriert werden. Ich bin nichts Besonderes, ich mache einfach nur das, was ein Song braucht. Ein Lead soll einen Song besser machen, nicht schlechter. Es geht nie darum etwas zu spielen, nur weil man etwas kann, sondern damit man den gesamten Song aufwertet. Es ist natürlich schön, wenn du Millionen von Noten in Sekunden unterbringst und alle Geschwindigkeitsrekorde brechen kannst, aber was bringt das dem Song? Man muss einfach probieren. Wenn ich einen Rat geben kann dann den: Versucht es einfach. Ob es dann gut klingt oder nicht, merkt ihr ohnehin.

Schon Mick Box von URIAH HEEP hat mir gesagt, dass der Song immer über dem Solo und dem Gitarristen stehen sollte.

Da stimme ich vollkommen zu. Wenn eine Band großartig ist, hat sie großartige Songs. Alles andere macht keinen Sinn. Es gibt natürlich auch andere Beispiele, aber die muss ich jetzt ja nicht namentlich benennen. (lacht)

Mit „Redeemer Of Souls“ habt ihr letztes Jahr eines der besten JUDAS PRIEST-Alben der letzten Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte veröffentlicht. Auch das Feedback war fast durchweg positiv. Was denkst du mit einem guten Jahr Distanz dazwischen heute über dieses Album?

Wir sind extrem stolz darauf. Dass wir nach 17 oder 18 Studioalben so eines schreiben würden, und das auch noch so gut angenommen wird, das war auch für uns alles andere als selbstverständlich. Es ist nicht so, dass wir faul gewesen wären, denn dann würden wir nicht so lange im Business sein, aber als wir vor vier Jahren Richie Faulkner in die Band bekommen haben, war das eine unglaubliche Frischzellenkur. Wir hatten neue Ideen und sie waren noch immer JUDAS PRIEST. Ich mag es auch, zwischendurch mal solo zu arbeiten, aber mit Richie war alles so frisch und neu – das hat uns alle motiviert. Erfrischend ist das richtige Wort dafür.

Das glaube ich dir aufs Wort, aber du hast davor nahezu 40 Jahre lang mit K.K. Downing die Gitarrenfront gebildet. War es nicht anfangs hart, ihn nicht mehr an deiner Seite zu haben?

Ich dachte, dass es schwierig werden würde, weil wir anfangs selbst nicht wussten, wie wir Ken ersetzen sollten. Richie war wie ein Wunder, ich kann es noch immer nicht glauben. Er ist wie eine Erscheinung und dabei noch so ein liebenswerter, bescheidener Kerl. Außerdem hat er unglaubliches Talent und es war im Prinzip unmöglich, nicht ihm klarzukommen. Gerade JUDAS PRIEST war schon immer ein sehr familiäres Projekt und alles war sehr demokratisch aufgestellt. Wenn jemand gegen eine Idee ist, wird sie nicht ausgeführt und so war es natürlich auch wichtig, dass charakterlich alles passt. Richie hat beim Songschreiben seine eigene Note eingebracht und sich trotzdem an alle PRIEST-Trademarks gehalten. Das ist verdammt schwer und er hat diese Aufgabe mit Bravour gelöst. Wir wussten anfangs auch nicht, wie wir als Songwriter-Duo zusammenstehen würden und auch das funktionierte nahezu perfekt. Er passt perfekt in die Familie.

Ich habe euch damals 2011 mit WHITESNAKE in der Wiener Stadthalle auf eurer „Farewell“-Tour gesehen. Von einem Abschied ist heute aber nichts mehr zu merken.

Ich weiß schon, worauf du ansprichst, aber wir haben nicht gelogen! Zu diesem Zeitpunkt war das tatsächlich als unsere Abschiedstour geplant, aber plötzlich hatten wir „Redeemer Of Souls“ in unseren Köpfen und Händen. Wir sind ja nicht blöd und wussten, dass wir eine Art neue „Painkiller“-Scheibe in der Hand hatten. Wir waren plötzlich wieder aufgeregt und wir lieben es, mit JUDAS PRIEST Heavy-Metal-Songs zu spielen. Wir hatten dazu noch Richie und einen Haufen genialer neuer Songs – es gab also keinen Grund mehr, aufzugeben. Wir waren plötzlich wieder voller Enthusiasmus.

Kaum zu glauben, dass dieser Mann bereits 68 Lenze zählt - JUDAS PRIEST-Gitarrist Glenn Tipton

War es im Prinzip Richie’s Enthusiasmus, der JUDAS PRIEST am Leben hielt?

Versteh mich nicht falsch, JUDAS PRIEST waren immer eine Band, die nach vorne geschaut hat und bei der es niemals am Enthusiasmus gescheitert ist. Aber wir wurden älter und die Motivation ging ein bisschen zurück. Richie war aber immer Fan der Band und alleine aus diesem Gesichtspunkt war er einfach erfrischend und motivierend für uns alle. Wir spielten auf der Bühne so gut zusammen, die Performance mit Richie war hervorragend und daraufhin beschlossen wir endgültig, dass die „Farewell“-Tour eben nicht die letzte Tour sein dürfe. Wir wussten, dass wir mit neuen Songs wie „Dragonaut“ was zu sagen hatten. Es kam am Ende anders als alles geplant war, das ist mir natürlich bewusst, aber ich habe noch keinen Bock auf die Pension. (lacht)

K.K. Downing hat sich aber gerade deshalb verabschiedet, weil er mehr Zeit für sich und seine Familie wollte…

Ich werde nicht über ihn sprechen, ich muss da extrem vorsichtig sein.

…darauf wollte ich auch gar nicht hinaus, sondern dir die Frage stellen, warum du mit 67 nicht leiser treten möchtest?

Ich fische wirklich viel, verbringe auch viel Zeit mit meiner Tochter und meinem Enkel, wenn ich nicht auf Tour bin. Ich liebe meine Familie, aber wenn du erfolgreich sein willst, musst du im Leben einfach gewisse Opfer bringen. Wenn ich zuhause bin, dann verbringe ich meine komplette Zeit mit meiner Familie. Am Ende geht es mir doch besser als dem Durchschnittsarbeiter, der von Montag bis Freitag wahrscheinlich von 7 Uhr morgens bis 19 Uhr außer Haus ist und sein Kind nicht so oft sieht. Wenn ich daheim bin, dann bin ich auch voll daheim. Bei K.K., ach was, ich lass das jetzt lieber einfach so stehen.

Rob Halford hatte vor knapp zwei Jahren eine sehr schwere Rücken-OP. Hattest du Angst, dass das die JUDAS PREIST-Karriere stoppen könnte?

An einem gewissen Punkt waren wir sehr beunruhigt, weil er im Rollstuhl saß. Richie hat ihn in New York im Rollstuhl durch die Gegend geschoben, um Interviews zu geben, weil es ihm nicht möglich war, einfach mal so ein Taxi zu nehmen. Richie ist nicht nur ein hervorragender Gitarrist, sondern auch ein grandioser Rollstuhlschupfer. (lacht) Das ist gut zu wissen, weil er uns allen vielleicht mal damit helfen kann.

Was würde denn passieren, wenn JUDAS PRIEST eines Abends von der Bühne gehen würden, ohne „Living After Midnight“ zu spielen?

Ich weiß es nicht. Das ist wohl wie bei JIMI HENDRIX, der auch schon gewisse Songs nicht mehr spielen konnte, obwohl alle darauf abfahren. Wenn ich vor einer Show an diesen Song denke, dann mag ich oft schon gar nicht mehr, aber es ist jeden Abend dasselbe. Du bist auf der Bühne, du siehst die begeisterte Menge und merkst, wie sie die ersten Takte mitsingt und mitsummt und dann steigen beim Refrain alle ein – das ist unbezahlbar. Da sind wir als Band magisch mit dem Publikum verbunden und das ist der schönste Moment, den du als Musiker haben kannst. Das gilt auch für „Breaking The Law“ oder „Painkiller“ – das sind die Signature-Songs, die das Publikum jedes Mal von Neuem mitreißen. Egoistischerweise lieben wir es zu performen, aber noch mehr lieben wir es, wenn die Leute einsteigen und sich total mitreißen lassen.

Wie gut erinnerst du dich eigentlich an mehr als 40 Jahre JUDAS PRIEST? Wenn ich dich bitten würde, die siebente Nummer eures Debütalbums „Rocka Rolla“ zu spielen, wäre das theoretisch möglich?

Nein, keine Chance. (lacht) Ich habe ohnehin ein furchtbares Erinnerungsvermögen und wir hassen es auch vor Tourneen, geistig zurückreisen zu müssen, um gewisse Songs wieder zu erlernen. Wir sind eine Band, die nach vorne sieht, dort liegt unsere Prämisse. Natürlich geht das aber nicht immer so einfach. Das liegt übrigens auch daran, dass ich eben keine Skalen spiele, denn so vergesse ich einfach das Gerüst von Songs, die ich selber mal geschrieben habe. Ich komme bei den Songs oft schon sehr nah an die Ursprungsversion heran, aber eigentlich gelingt mir das nie mehr so, wie ich es ursprünglich geschafft hatte.

Nach so vielen großen Alben erwarten sich die Fans natürlich auch viele Jubiläumsshows. „Defenders Of The Faith“ wurde letztes Jahr 30, der Hit „Painkiller“ heuer 25 Jahre alt – und alle erwarten sich Konzerte, wo ihr die Klassiker in einem Durchlauf runterspielt. Setzt euch diese Erwartungshaltung von euren Fans unter Druck?

„British Steel“ haben wir komplett gespielt, das war aber auch das einzige. Bei „Defenders Of The Faith“ haben wir nur mehr diverse Nummern gespielt. Natürlich wäre es möglich, noch mehr von den alten Klassikern als Gesamtes aufzuführen, aber jetzt, wo wir „Redeemer Of The Souls“ veröffentlicht haben, sehen wir uns eigentlich nicht dazu veranlasst, das zu tun. Dafür ist das neue Material einfach zu gut, um es jetzt für eine Klassiker-Tour unter Verschluss zu halten. Ich weiß natürlich nicht, was die Zukunft bringt, aber wir werden uns schon auf die neuen Sachen konzentrieren. Selbst jetzt, knapp eineinhalb Jahre nach der Veröffentlichung, ist „Redeemer Of Souls“ ein neues Album. Viele Leute sind immer noch nicht firm mit den Songs und es dauert sicher noch drei, vier Jahre, bis manche Songs zu den absoluten PRIEST-Klassikern werden. „Hell & Back“ ist zum Beispiel ein großartiger Song oder auch „Metalizer“ – es gibt so viel neues Zeug, das wir spielen können. Ich denke, wir werden diesen Weg so beibehalten. Wenn wir ein bestimmtes älteres Album featuren, dann wohl nur mit den größten Hits daraus, aber nicht als Gesamtwerk. Die Klassiker, die alle hören wollen, werden wir natürlich spielen.

Mit dem neugewonnenen, alten Enthusiasmus darf man sich hoffentlich ein weiteres JUDAS PRIEST-Album erwarten? Ein eindeutiges Ja gab es bislang noch immer nicht von euch zu vermelden.

Ich denke schon, dass das passieren wird. Das Hauptproblem ist für uns derzeit, dass wir nach „Redeemer Of Souls“ anders beurteilt werden, weil das Album wirklich eingeschlagen hat. Wir müssen also etwas veröffentlichen, das noch besser ist und das ist natürlich nicht so einfach, wie es jetzt klingt. (lacht) Vielleicht machen wir auch etwas ganz anderes, auch darüber reden wir oft. Für uns sind das derzeit aufregende Zeiten und ich hätte nach mehr als 40 Jahren auch nicht erwartet, dass die Band noch immer Songs schreibt und tourt. Ich habe aber das starke Gefühl, dass wir noch ein Album veröffentlichen werden. Es wäre schön, vor der Pension die Marke von 20 Studioalben zu erreichen. Klingt doch gut, oder nicht?

25 würde besser klingen, aber die 20 lasse ich gerne durchgehen.

(lacht) Dann gibt mir einen Bypass oder so. Ich würde schon gerne in Pension gehen und dann in Ruhe sterben, nicht den Tod vor die Pension kommen lassen. (lacht)


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