Interview: ALCEST - Stéphane „Neige“ Paut

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Es ist sehr seltsam, dieses Album den Menschen zu zeigen, weil "Spiritual Instinct" so persönlich ist. Ich habe alles was ich habe, meine tiefsten Gefühle, in dieses Album gesteckt. Es ist so intim. Für mich ist es aber nicht einmal der schwierigste Teil, die Musik zu zeigen, sondern darüber reden zu müssen. Ich mache eigentlich Musik, damit ich nicht über all diese Dinge reden muss.

Neige von ALCEST offenbahrt mit "Spiritual Instinct" seine Suche nach dem, was ihn ausmacht - die dunklen und die schönen Seiten. Obwohl er Musik als Ausdrucksmittel wählt um nicht sprechen zu müssen, hat er uns vom aufwändigen Entstehungsprozess und seinen Beweggründen erzählt.

Veröffentlicht am 11.10.2019

Bonjour Neige, lass uns zunächst über den Titel des kommenden ALCEST-Albums sprechen: „Spiritual Instinct“. Als ich ihn zum ersten Mal hörte, dachte ich sofort: "Das ist genau das, wovon er bisher in Interviews so oft gesprochen hat". Würdest du sagen, dass dieses Album im Grunde genommen einfach davon handelt, wie du dich mit deinem spirituellen Instinkt beschäftigst?

Ja, das war im Wesentlichen die Idee. Es ist ein bisschen wie eine Zusammenfassung meines gesamten spirituellen Lebens bis jetzt. Ich habe mich schon immer für Spiritualität interessiert, weil ich, wie du vielleicht weißt, als Kind eine spirituelle Erfahrung gemacht habe, die mein Leben grundlegend verändert hat. Spiritualität ist etwas, was ich in meinem Leben jeden Tag brauche und es ist ein wirklich starkes Gefühl. Es ist fast so stark wie das Bedürfnis zu essen oder zu atmen. Aber für mich hat das nichts mit Religion zu tun, denn in der Spiritualität bist du so ziemlich auf deinem eigenen Weg.  Du hast keine Regeln zu befolgen, sondern folgst deinem eigenen Weg und das ist sehr faszinierend, weil du dich auf diese Weise selbst entdeckst. Du lernst dich selbst kennen.

 

Spiritualität ist, zumindest für mich, ein sehr vager und mehrdeutiger Begriff. Könntest du versuchen zu beschreiben, was Spiritualität für dich ist?

Für mich ist Spiritualität das Nachdenken über die großen Fragen im Leben, darüber, was passiert, wenn man stirbt. Es geht auch darum, wie man ein besserer Mensch wird. Wir alle werden den ganzen Tag mit allen möglichen Informationen in den sozialen Medien oder in den Nachrichten im Fernsehen bombardiert, und ich denke, dass wir darüber den Kontakt zu uns selbst, zu unserem Wesen verlieren. Spiritualität bedeutet, sehr tief mit der eigenen Essenz verbunden zu sein, mit dem, was man wirklich ist. Wenn du herausfinden willst, wer du wirklich bist, musst du dir selbst begegnen, du musst dich selbst im Spiegel betrachten. Möglicherweise wirst du dabei auch sehr dunkle Dinge an dir entdecken und bist dann willens, sie zu bekämpfen, aber vorher musst du sie akzeptieren. Ich war schon immer voller Ängste, das ist Teil davon, was ich als meine dunkle Seite sehe. Normalerweise bringe ich nicht viel von meinen dunklen Seiten in ALCEST ein, weil ich die Musik magisch und ansprechend gestalten möchte, aber diesmal verspürte ich das Bedürfnis, mehr von meiner Wut in die Musik zu bringen, da so etwas auch immer eine Chance zur Verbesserung ist. Für mich ist Spiritualität ein Streben nach Wahrheit. Man kann nicht sicher sein, ob man am Ende die richtigen Antworten bekommt, aber das ist nicht das, was zählt. Was wirklich zählt, ist die Reise selbst.

 

Diese dunklere Seite, von der du sprichst, hat nun ihren Weg an die Oberfläche gefunden. Die Musik auf "Spiritual Instinct" ist in der Tat etwas dunkler, etwas härter. Entdeckst du deine musikalischen Wurzeln wieder?

Ja, aber das war nichts, was wir geplant haben. Wir waren mit "Kodama" viel unterwegs und es war leicht, sich in diesem verrückten Tour Leben zu verlieren. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich immer mehr von mir selbst und meiner Spiritualität distanziere. Das passiert oft. Wenn ich viel unterwegs bin, verliere ich diese Verbindung irgendwie. Als ich dann meine Gitarre nahm, um neue Songs zu schreiben, war es eine brutale Rückkehr. Ich realisierte, dass es viel Wut, viel Angst und Melancholie gab. Aber diese Dunkelheit war nicht das, was ich beabsichtigt habe.

 

Könntest du beschreiben, wie die Geisteshaltung, über die wir gesprochen haben, den Songwriting-Prozess beeinflusst hat? Wie sind die Songs auf „Spiritual Instinct“ entstanden?

Musik zu schreiben ist wie Tagebuch schreiben für mich, es passiert einfach je nach Gemütszustand. Ich habe normalerweise eine sehr simple Art, neue Musik zu komponieren. Ich sitze einfach zu Hause, spiele auf meiner Gitarre und nehme Ideen auf meinem Handy auf. Es ist ein sehr einfacher und intuitiver Prozess.
Diesmal hatte ich das Gefühl, noch mehr als sonst, dass ich etwas Dringendes zu sagen habe. Ich habe den ersten Song für das Album, "Protection", in nur wenigen Stunden geschrieben. Normalerweise dauert es viel länger, ich verändere eine Menge während des Prozesses, ich nehme einige Riffs weg, füge andere hinzu, aber diesmal ist das Endergebnis im Wesentlichen so geblieben wie meine ersten Ideen zu diesem Song. Ich mag diese Spontanität. Wenn du etwas in nur wenigen Stunden schreibst und es einfach so lässt wie es ist, ist das der beste Weg für mich, neue Musik zu schreiben, weil du deinen Emotionen am nächsten bist. Aber leider passiert das nicht sehr oft.

 

Du musst eben in der richtigen Stimmung sein...

...ja, in der richtigen Stimmung und man muss lange Zeit nicht mehr geschrieben haben, damit so etwas geschieht. Als ich "Protection" schrieb, war das der Fall. Ich hatte seit Monaten keine Songs mehr geschrieben. Aus diesem Grund hatte ich dieses drängende Bedürfnis, mich auszudrücken.

 

Was ist sonst noch anders bei "Spiritual Instict" gegenüber "Kodama"? Ist "Spiritual Instinct" eine Art musikalische Entwicklung oder etwas, das sich durch besondere Eigenschaften auszeichnet?

Ich denke, es ist etwas, das sich deutlich abhebt und für sich steht. "Kodama" war ein Konzeptalbum über den Kampf zwischen Mensch und Natur, es ist eine Hommage an den japanischen Film "Prinzessin Mononoke " und hat viel mit meiner Liebe zu Japan zu tun.  
"Spiritual Instinct" hat nichts mit dem Vorgänger zu tun, es ist ein introspektives Album, es geht darum, in sich selbst hineinzuschauen und herauszufinden, wer man wirklich ist. "Spiritual Instinct" ist wie eine Heilung, es ist sehr kathartisch. Weißt du, ich hatte schon immer dieses Problem damit, sehr kritisch zu mir selbst zu sein. Ich habe irgendwie ein geringes Selbstwertgefühl und die Spiritualität lehrt dich, dich selbst zu akzeptieren, dich selbst zu lieben. Niemand ist perfekt und du musst es akzeptieren und mit deinen Fehlern leben. Das ist Teil der menschlichen Seele, wir sind nicht perfekt und das ist auch in Ordnung.

 

Aber bist du ein Perfektionist, wenn es um musikalische Aspekte geht?

Ja, sehr sogar! Sehr. Fast extrem. Ich strebe immer nach Perfektion in jedem Schritt des Schöpfungsprozesses. Aber irgendwann muss man aufhören, sonst könnte man sein ganzes Leben im Studio verbringen und nach dem perfekten Sound suchen. Irgendwann muss man sagen: "Das ist gut." Bis es soweit ist, gehe ich aber viele Bearbeitungszyklen durch. Während ich einen Song schreibe, ändere ich ihn gerne komplett, ich erstelle viele verschiedene Versionen. Und die Sache ist die, dass unsere Alben immer sehr kurz sind, etwa 40 Minuten, und deshalb muss man die bestmöglichen Melodien, die besten Stücke einbringen. In einem so kurzen Album kann man keine Filler-Songs haben. Jedes Riff muss eine Geschichte erzählen.

 

Ist es wahr, dass ihr das ganze Album analog auf Tonband aufgenommen habt?

Ja, das stimmt. Für "Kodama" hatten wir das nur für die Drums so gemacht und diesmal auch für den Rest der Instrumente. Es dauert viel länger auf diese Weise, es ist sehr oldschool, man kann keine einzelnen Parts wiederholen, man muss den ganzen Song wieder von vorne anfangen, wenn man etwas ändern will. Ja, es ist wirklich viel mehr Arbeit, auf diese Weise aufzunehmen...

 

...warum hast du es dann gemacht? Aufgrund des Klanges?

Ja, der Klang ist organischer und lebendiger. Bei einer digitalen Aufnahme ist alles präzise und ein analoger Sound hat diese spezifischen Verzerrungen, das ist sehr schön. Natürlich bemerken die meisten Leute den Unterschied im Endprodukt nicht einmal und vielleicht würde sogar ich selbst ihn nicht hören. Wenn ich einen Blindtest zwischen Tape und Not-Tape-Aufnahme machte, würde ich vielleicht den Unterschied nicht bemerken. Aber es gibt einen kleinen Unterschied. Und der Produzent, mit dem wir zusammenarbeiten, liebt Tonbandaufnahmen. Es war Teil der Abmachung: wenn wir dieses Album zusammen machen, nehmen wir es auch analog auf.

 

Kunst muss vielleicht manchmal wehtun. Ist viel mehr Arbeit in sie zu stecken als "notwendig" vielleicht auch Teil der Katharsis, von der du gesprochen hast?

Ja, vielleicht kann man es so sehen. Ehrlich gesagt, ist es einfach zu viel Arbeit für einen so kleinen Unterschied und ich glaube nicht, dass wir das in Zukunft wieder auf die gleiche Weise machen werden. Für die Drums scheint es vorteilhaft und lohnend zu sein, aber der Rest kann in Zukunft auch digital aufgenommen werden.

 

Die Deluxe-Version von „Spiritual Instinct“ enthält interessante Remixe („Sapphire" vom Synthwave-Produzenten PERTURBATOR und „Protection" von Ben Chisholm). Erzähl uns etwas über diese Zusammenarbeit.

PERTURBATOR ist ein ALCEST-Fan und ich bin auch Fan seiner Musik, wir leben beide in Paris und wir sind Freunde. Wir wollten schon seit geraumer Zeit zusammenarbeiten, und das war der perfekte Anlass dafür. Ich liebe den PERTURBATOR-Remix sehr, er verwandelt "Sapphire" in einen Gothic-Hit. Es ist großartig. Und Ben Chrisholm ist einer der besten Produzenten und Arrangeure der modernen Underground-Szene und ich wollte unbedingt, dass er einen Remix macht, ich denke, er ist wirklich talentiert. Er hat auch etwas Großartiges geschaffen, er hat den Song komplett verändert - es ist nicht mehr derselbe Song.

 

Sprechen wir ein wenig über das Artwork. Was für eine Art von Wesen ist die Figur auf dem Cover und wofür steht sie?

Es ist eine Sphinx, ein Symbol des Enigmas, des Mysteriums. Für mich ist die Sphinx eine großartige Metapher für die Spiritualität. Du stellst viele Fragen, du wunderst dich über Dinge und hast es mit großen Geheimnissen zu tun. Die Sphinx ist eine schöne Figur um all dies zu repräsentieren. Die Illustration ist eine Hommage an die Symbolisten des 19. Jahrhunderts, die sich so ziemlich mit den gleichen Themen, Mythologie und Spiritualität, befassten wie ich und die Sphinx gerne in ihren Bildern verwendeten. Das Artwork bildet auch die Dualität zwischen meinen dunkleren und schöneren Seiten ab. In der Figur der Sphinx spiegelt sich diese Dualität wider durch die Kombination des menschlichen Gesichts, der schönen Flügel mit animalischen Merkmalen wie Krallen und tierischen Körper. Sie ist schön und aggressiv zugleich. Ich mag diesen Kontrast sehr.

 

 

Würdest du sagen, dass die Gestaltung des Artworks ein wesentlicher Bestandteil des Albums ist?

Für mich ist das Artwork genauso wichtig wie die Musik. ALCEST ist ein ganzheitliches künstlerisches Projekt, bei dem es nicht nur um die Musik, sondern auch um die Visualisierung geht. Ja, und ich habe genauso viel Mühe in die Bildsprache wie in die Musik gesteckt.

 

Kannst du noch etwas mehr darüber sagen, warum du nach zwölf Jahren von Prophecy Productions zu Nuclear Blast gewechselt bist?  Du wirst immer noch beim Prophecy Fest auftreten.... also gibt es kein böses Blut...

Ja, wie von dir gesagt, es sind eben zwölf Jahre. Nach zwölf Jahren willst du etwas anderes ausprobieren, weißt du. Wir haben einen sehr langen Vertrag mit Prophecy abgeschlossen und waren danach froh, jetzt etwas anderes auszuprobieren.

 

Das Prophecy Fest findet aber auch an einem einzigartigen Ort statt, in einer Höhle, und das passt wirklich zu eurer Musik, sodass das auch ein guter Grund ist, dort zu spielen.

Ja, das auch, wir sind dort schon vor drei Jahren aufgetreten und haben unser zweites Album "Écailles de Lune" in voller Länge live gespielt. Dieses Jahr kommen wir wieder. Ja und ich stimme zu, dass es wirklich zu dieser Art von Band passt. Es ist ein total immersives Erlebnis...

 

...braucht aber bestimmt eine besondere akustische Vorbereitung, um dort eine Show zu spielen

Die akustische Situation ist ein Problem, denn in einer solchen Höhle hat man viel Resonanz und Reflexion, aber es ist ein wirklich wunderschöner Ort.

 

Welches ist oder sind die Songs des neuen Albums, auf die du dich live am meisten freust?

Ich glaube, es ist "Protection", die Single.

 

Da „Spiritual Instinct“ ein so persönliches Kunstwerk ist: fällt es dir schwer, es loszulassen und es der Welt zu zeigen?

Ja, es ist sehr seltsam, dieses Album den Menschen zu zeigen, weil es sehr persönlich ist. Ich habe alles, was ich habe, meine tiefsten Gefühle in dieses Album gesteckt. Es ist so intim. Für mich ist es aber nicht einmal der schwierigste Teil, die Musik zu zeigen, sondern darüber reden zu müssen. Ich mache eigentlich Musik, damit ich nicht über all diese Dinge reden muss. Aber es ist okay, ich muss das als Teil meines Jobs tun. ALCEST ist eben keine typische Rock ‘n Roll-Band, die Themen, über die wir sprechen, sind sehr ernst und tiefgründig und es ist nicht einfach, das den Menschen zu offenbaren.

 

Das kann ich gut verstehen. Umso schöner, dass du dir die Zeit genommen hast, mit mir darüber zu reden. Ich wünsche dir alles Gute für alles, was du noch vorhast!

Danke auch, pass auf dich auf und vielleicht sehen wir uns bei einer Show der kommenden Tour.

 



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