29.04.2016, Uebel & Gefährlich, Hamburg

LONG DISTANCE CALLING

Text: Jazz Styx | Fotos: Jan Termath
Veröffentlicht am 03.05.2016

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Heute Nacht wird geträumt! Im vierten Stock des Hamburger Flakturms IV befindet sich ein mittelgroßer Veranstaltungsraum mit Bühne. An diesen Ort, dem Uebel & Gefährlich, locken LONG DISTANCE CALLING die Fans progressiver Rockklänge zum Erstgenuss ihres exakt am Konzerttag herausgekommenen Albums „Trips“. Vorab singt PETTER CARLSEN ein paar Solo-Nummern und TINY FINGERS eröffnen die musikalischen Traumwelten.

Die Sonne geht unter und die Kissen versprechen Erholung vom vergangenen Tag. PETTER CARLSEN spielt den Soundtrack zum Dahindämmern. Ganz allein mit seiner Stimme und seiner Gitarre macht er Musik wie in Zeitlupe: Langsames, ruhiges Saitenspiel und eine sehr hohe schöne Stimme könnten den ersehnten Schlaf einleiten. Zweierlei hält davon ab: Erstens ist die Stimme des Norwegers sehr, sehr laut eingestellt für die noch geringe Anzahl an Gästen, was der wunderbar träumerischen Atmosphäre seiner Klänge entgegenwirkt. Zweitens lassen sich die meisten Besucher nicht auf die ruhige Musik ein und unterhalten sich laut. So kann doch keiner einschlafen!

 

Bald jedoch sind die Augen zugefallen und die Welt der Träume kann betreten werden. TINY FINGERS sind die Architekten dieser Welt: sphärisch, versunken und ganz ohne Gesang. Die folgenden Bilder versuchen, eine Ahnung von der Atmosphäre der israelischen Band zu vermitteln: Zunächst treiben die Träumenden in einem riesigen Aquarium, das in einem Planetarium mit all seinen leuchtenden Sternen und Planeten steht, das in uralten Katakomben errichtet wurde, die tief unter einem unberührten Dschungel liegen. In einer zweiten Traumsequenz werden die Schlafenden Zeuge der Landung einer fortschrittlichen Alienrasse und ihres friedlichen Erstkontakts mit den Ureinwohnern Australiens. Natürlich sind das nur subjektive Imaginationen, in die mich TINY FINGERS entführen, doch sicherlich erlebt jeder Träumende, wie grandios die vier Musiker spielen: sehr langsam, extrem schnell, laut, leise, hart, atmosphärisch, elektronisch, rockig und noch unglaublich viel mehr.

 

Während soeben noch alle in den Tiefen des Unbewussten versunken waren, stellen LONG DISTANCE CALLING einen unruhigeren Schlaf mit vielen Traum- und Wachphasen dar. Die Morgensonne scheint bereits auf die Laken, die Träume haben nicht mehr die gleiche Tiefe, aber dafür lockt der neue Tag und erinnert, wie aufregend auch der Wachzustand ist. Die Münsteraner fahren einen verschnörkelten Kurs zwischen den publikumsnahen Welten des rockigen, fast metalligen Feierns und der atmosphärischen Ferne verschleierter Traumwelten. Die Wachwelten von LONG DISTANCE CALLING bekommen durch das neue Album „Trips“ einen viel größeren Anteil als zuvor, da Petter Carlsen als Sänger eine Brücke von progressiven Post-Rock-Klängen zur Publikumsinteraktion schlägt. Es ist nicht zu leugnen, dass die Vocals von hervorragender Qualität sind. Ob sie allerdings die Musik passend erweitern – vielleicht sogar komplettieren – oder doch eher stören, indem sie unangenehm von der Feinheit und Vielseitigkeit der Instrumente ablenken, wird sicherlich von Zuhörer zu Zuhörer unterschiedlich bewertet. Wer bei LONG DISTANCE CALLING immer schon mal mitklatschen wollte erhält nun die Gelegenheit dazu. Wer aufgrund der neuen Eingängigkeit die Nase rümpft muss die allzu typische Musikfan-Erfahrung machen, dass sich „seine“ Band weiterentwickelt. So wird geträumt, aufgewacht, geträumt und wieder aufgewacht: ein Spagat zwischen dynamischem Mitmach-Rock und progressivem Versink-Post-Rock – mitunter reizvoll, mitunter anstrengend.

 

Fazit: Die Nacht begann sehr langsam mit PETTER CARLSEN, der mit seinen schönen, ruhigen Tönen eine schwierige Position bei den gerade erst eintreffenden Rock-Fans hatte. TINY FINGERS bewiesen dann mit tiefen, atmosphärischen Träumen, was man aus den Sounds der 90er-Jahre-Weltraum-Shooter und Oldschool-Science-Fiction-Raumschiff-Flugsimulatoren alles rausholen und wie man selbst in Trance noch wunderbar abrocken kann – eine unbedingte Empfehlung! LONG DISTANCE CALLING repräsentierten dann den unruhigeren Schlaf und das wiederholte Aufwachen in den Morgenstunden: gerade noch Traumwelt, dann wieder Rock-Konzert, erst Post-Rock, dann Mitklatschen, progressive Tiefe und fröhliches Zuprosten, instrumentale Sphären und Petter Carlsens Gesang, vielseitiges Wechselspiel oder anstrengende Kombination, spannende Weiterentwicklung oder unwillkommener neuer Kurs? In jedem Fall ein gelungener Abend – eine traumreiche Nacht!


WERBUNG: Hard
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