Grime - Deteriorate

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VÖ: 10.06.2013
Bandinfo: Grime
Genre: Sludge Metal
Label: Mordgrimm
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Lineup  |  Trackliste  |  Credits

Der Mensch reagiert, ganz gleich wie vernunftorientiert, bewusst und unbewusst auf Reize. Es ist eine simple Kausalkette, dass bei Hunger der Magen knurrt, bei Kälte Gänsehaut sich bildet und bei optischem Gefallen im Intimbereich sich etwas regen kann. Diese Vorgänge wird niemand negieren wollen; etwas unterschwelliger jedoch wirkt die Sprache auf den Menschen ein – abgesehen von der Tonhöhe beispielsweise, die uns eine Stimme und ihren „Besitzer“ gleichermaßen attraktiv finden lässt, so sind es auch die Wörter selbst, die plötzlich und ohne unser Zutun in unserer grauen Masse eine Assoziationskette anstoßen, einen „Domino Day“ der Gehirnwindungen. „Aus Wörtern werden also Worte“, wenn wir an dieser Stelle einmal eine sprachwissenschaftliche Spitzfindigkeit erwähnt haben dürfen.
Probieren Sie es aus! Nur ein paar wenige Beispiele aus meinem Leben – stets, wenn ich das Wort „Frage“ höre oder selbst verwende, entsteht in mir das Bild von Columbo, der stets „noch eine Frage“ stellt, auch wenn er die Antwort im Grunde bereits kennt. Ist für jemanden oder mich etwas „elementar“, dann verweben sich plötzlich Houellebecq und Sir Arthur Conan Doyle im Dunst einer Pfeife ineinander. Jedes Angebot zur Penisverlängerung oder Geldüberweisung aus dem tiefsten Afrika macht mich an Monty Python denken („Spam, Spam, Spam, Spam!“) – und beim Worte „Grime“, da rufen meine Ganglien sofort nach der abgespeicherten Information INIQUITY und dem vor Jahren gern kursierenden Video nicht von süßen Katzenbabies, sondern der Growlkaraoke.

Wie viel Spaß hatten wir damals zur Jahrtausendwende mit den Dänen und ihrem kurzweiligen „Brmbl Grrroaar“-Zeitvertreib! Beste Voraussetzungen für GRIME, die Italiener aus Triest, sich an jene positiv konnotierte Assoziation mit massig Super Bleifrei in den Windschatten dranzuhängen! Einst war es der „Bullet’s Breath“, der schmutzig und mit Ruß verschmiert – so die Eindeutschung von „Grime“ – durch die Pampa dampfte, nun wird also das liebliche Kanaltal angeschwärzt, diese „Bunga, Bunga“-Partie hinterlässt eine gewaltige Sauerei.
Würde man diese Sauerei in einen Eimer schütten, so fänden sich nebst diversesten Flüssigkeiten aus sämtlichen Körperöffnungen (von klar bis färbig, flüssig über viskos bis fest) freilich Restalkohol, Asche und Zigarettenstummel, sowie ein nicht ganz unverzichtbarer Anteil an Essensresten, Hauptsache fettig – für die Unterlage wäre es gewesen. Dieses wunderbare, schmackhafte Potpourri wird nun durchgequirlt und dem mutigsten aller Mutigen als „Anti-Kater-Trunk“ kredenzt. Wir alle haben in unserem Freundeskreis ein, zwei Herren oder Damen der Schöpfung, die in der Fetten oder Restfetten (und manchmal auch stocknüchtern) so wirklich alles tun – wenn’s sein muss, für einen Euro. Augen zu und durch, runter mit der Brühe!

Fiel Obelix als Kind in Miraculixens Kessel, so ist dies der Trank, der gleich vier wackere Krieger auf Lebenszeit zwar nicht gegen die Römer antreten lässt, aber immerhin gewaltig fies sludgen macht. Die Herren klingen, wie sie aussehen: versifft. Die Kleidung steht ungewaschen von allein im Raum herum und auch der Sound ist derart verwaschen als wäre man mit der Bleiche nochmals extra drüber gegangen, um die Kotzbrocken auch nur irgendwie in den verfilzten Wollfasern zu überdecken. Es ist wandelnder Unrat, ja: Unflat, der in durchlöcherten Converse ohne Schuhbändern, dafür mit ein bisschen Gaffer, Teilen einer Jeans, die vermutlich schon die berühmten Goldwäscher selbst trugen und gräulich-durchsichtigem EYEHATEGOD-Shirt in der Ecke lehnt: „A differenza delle altre malattie la vita è sempre mortale.“

Restfett so fett wie CROWBAR, ist dem Quartett gleich mit ihrem Debüt (nach der selbstbetitelten EP vor zwei Jahren, wohlbemerkt) ein Einstand gelungen, der sich mit gigantischer Schwerfälligkeit über die herumliegenden Alkleichen mehr plumpsen denn steigen lässt, dabei ein fieses Knäuel aus Schleim und Nikotin im Rachen, das – und zwar nur das! – ein derart fieses Keifen evozieren kann. Wo anderswo mit etwas Anstand noch über Klomuschel oder Waschbecken gebeugt jener gelbliche Batzen hervorgewürgt wird, so wird hier frisch-frei von der Leber geschlatzt, dass es eine Freude ist – und irgendwo wird diese Masse schon picken bleiben. Heiser-krächzend torkelt also dieses Wrack von Mensch durch den kalten Rauch, stößt einen anderen, entgegen fallenden Zechbruder (Oder ist es eine Schnapsdrossel? Man erkennt es nicht.), unwirsch zur Seite. Er lässt einen fahren, zuerst von hinten, unten, dann von oben und vorn. Ziemlich ekelhaft, der Auswurf ist ein klein wenig … schäumig.

Wie auch die Opfer einer derartigen feucht-fröhlichen Zusammenkunft bewegen sich auch GRIME mal im zähen Tempo wie in Zeitlupe, mal überraschend flink (zum Beispiel wenn die Blase drückt) durch das eigens geschaffene Nirwana, raus, nur raus aus diesem schäbigen Umfeld – nur um wenig später, ausgenüchtert, wieder danach zu gieren, möglichst bald wieder ins selbige zurück hineinzustoßen.

So ungern unsere Eltern dies auch hören mögen: Abende, Wochenenden, ja gar Wochentage wie diese sind keine Seltenheit, wie auch GRIME keine Seltenheit im großen Sludge-Zirkus darstellen und doch ist jeder Abend mit ein paar Promille oder Prozent zu viel hinter der Binde auf ihre eigene Art einfach nur schön. Nur Autofahren sollte man dann – oder mit GRIME in der Anlage – wirklich nicht. In „Zeno Cosini“ schreibt der große Stadtbruder von GRIME, Italo Svevo: „Niemals ... habe ich die Schönheit dieser Musik in solchem Maße empfunden. Sie entstand unglaublicherweise aus diesen einfachen vier Saiten, wie ein Engel Michelangelos aus einem Marmorblock.“ – als hätte er GRIME gekannt!



Bewertung: 3.5 / 5.0
Autor: Stefan Baumgartner (25.01.2014)

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