Cynic - Kindly Bent To Free Us

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VÖ: 14.02.2014
Bandinfo: CYNIC
Genre: Progressive Rock
Label: Season of Mist
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Lineup  |  Trackliste  |  Credits

„Zurück in die Zukunft.“ – dies ist ein Einstieg in die Kritik von „Kindly Bent To Free Us“, der treffender, aber auch irreführender nicht sein könnte.

Der neue, nach den beiden eingeschobenen EPs und der PORTAL-Compilation, veröffentlichte Longplayer ist nach der Wiederkehr „Traced In Air“ (2008) und dem glorreichen Einstand „Focus“ (1993) das erst dritte volle Album – das Intermezzo PORTAL einmal ausgeklammert – jener Herren, ohne deren Mitwirken einerseits das Schuldiner-Konzept „Human“ nicht derart gekonnt umgesetzt werden hätte können, ohne dem Reinert und Masvidal aber auch andererseits – zweifelsohne eine gewagte These – nicht per se einen derartigen Erfolg für CYNIC verbuchen hätten können. Ob es Kalkül war oder nicht: Nach einigen Demos in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern wurde zwei Jahre nach ihrem DEATH-Beitrag das Debüt veröffentlicht, das nicht allein deswegen wie eine Bombe einschlug, weil mit „Focus“ die Gattung „Prog Death“ – welche mit „Piece Of Time (ATHEIST, 1989) und „Testimony Of The Ancients“ (PESTILENCE, 1991) ihren Einstand feierte – auf eine neue, fusionlastigere, sphärigere Ebene gehievt wurde.

Die Schlagseite, die man auf „Focus“ einnahm, wurde konsequent – das darf als bekannt vorausgesetzt sein – weiterentwickelt, von den Death-Metal-Anleihen war bei CYNIC 2.0 exakt Nada vorhanden, „Traced In Air“ bestand allein aus Technik ohne Ende, Jazz, „Roboter“/ „Vocoder“-Stimmen, die stellenweise bereits das Debüt „anders“ geraten ließen, wie auch jenseitigen Atmosphären, die fernab vom Organischen in irgendwelchen nebulösen Nirwana-Sphären schwebten. „Traced In Air“ war in allen Ebenen unirdisch, mit jenem technischen Death Metal, der sich seitdem entwickelt hat, schlichtweg nicht mehr zu vergleichen – allein, weil die brachiale Vocal-Gewalt, auf die beispielsweise ATHEIST und PESTILENCE nach wie vor setzen, flöten ging.

Wo befinden wir uns also mit dem Fazit „zurück in die Zukunft“? Nun, CYNIC stehen, und das ändert auch „Kindly Bent To Free Us“ nicht, für konsequente Weiterentwicklung – in diesem Falle heißt jene aber, auch wieder einen Schritt zurück zu wagen, nicht zu „Focus“ (was vielleicht manche Ohren erfreut hätte, manche Gestrige gewünscht hätten), sondern zu AEON SPOKE, zu jener Formation, in der Reinert und Masvidal in der Mitte der 2000er-Jahre werkten – also in der „Vorbereitungsphase“ zu „Traced In Air“. Einen Assoziationsanstoß gefällig? Eines dieser Stücke, „Emmanuel“, das übrigens auch den Weg auf das Debüt „Above The Buried City“ fand, wurde für den Film „What The Bleep Do We Know!?“ verwendet, ein Film, der „spirituelle Verbindungen“ zwischen der Quantenphysik und dem Bewusstsein nachzuweisen gedenkt. Höchstgradig von der Wissenschaft kritisiert, so bleibt doch eine – von der „American Chemical Society“ als pseudowissenschaftlich verrissene – Annahme über, nämlich die, dass Menschen rückwärts in der Zeit reisen können und dass Materie in Wirklichkeit Gedanke ist.



Genau dies finden wir jedoch auf „Kindly Bent To Free Us“ vollzogen; Reinert und Masvidal reisen – gemeinsam mit Malone – zurück in die „vergrabene Stadt“ und zu den „sprechenden Äonen“, packen die Materie von damals in den Flux-Kompensator (eigentlich: „Flusskondensator“), was funktioniert, denn bereits damals wusste man, Komplexität zu einem Unikum zu verdichten, das auch durch den Zeitfluss (um nicht zu sagen: einen jungfräulichen Hinterein-/ausgang) passt – dabei aber dermaßen viel Drive hat, dass die 1,21 Gigawatt, die sonst mühsam durch Plutonium gestellt werden mussten, bei jenem DeLorean nun nicht mehr notwendig sind. Warum? Weil exakt diese Materie schlichtweg Gedanke ist. Quod erat demonstrandum.

Die Herren Zielhorst und Kruidenier (beide EXIVIOUS) wieder geschaßt, verdichtet man auf „Kindly Bent To Free Us“ somit nicht nur sich selbst, sondern auch das Musikalische wieder auf den Nukleus („Nukular!“, freut sich Homer Simpson). Wer hoffte, durch die Death-DTA-Tour hätten die Masterminds wieder Lust am „Brachialsound“ gewonnen – und wer dadurch von meiner Einleitung auch in die Irre geführt wurde, bei dem entschuldige ich mich herzlich. Gerade durch die Auslebung bei DEATH 2.0 aber, so glaube ich, war es erst möglich, für „Kindly Bent To Free Us“ noch tiefer – losgelöst – die „alte Materie“ in ein psychedelisches Konstrukt zu verweben, mehr eine philosophische Abhandlung, einen Soundtrack für die Auflösung zu schreiben, denn einfach „Traced In Air“ abzuwandeln. Viel mehr Spielraum hätte es hier auch nicht mehr gegeben, sofern man nicht sämtliche Bezüge zur Vergangenheit ad acta legen und ad absurdum führen hätte wollen.

„It’s a bold new sound for CYNIC and marks a gigantic leap in the band’s progression“, sagte Reinert über die neuen acht – neun, wenn man sich das Deluxe-Set zulegt – Stücke, und hier ist eine Progression nun eben gleichermaßen auch eine Regression. Der „Körper“ von „Focus“ wurde mit „Traced In Air“ Materie, nun wurde jene Materie zwar nicht wieder zu Körper, aber doch … physischer, somatisch. Ich habe mir lange überlegt, wie eine eingängige Verdeutlichung jener Entwicklung heißen könnte. Schließlich schoss mir – mit DEPECHE MODE im Hinterkopf – ein: „Depesche Mode“.



Bewertung: 4.5 / 5.0
Autor: Stefan Baumgartner (06.02.2014)

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