THE DILLINGER ESCAPE PLAN - Dissociation

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VÖ: 14.10.2016
Bandinfo: THE DILLINGER ESCAPE PLAN
Genre: Metalcore
Label: Party Smasher Inc.
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Lineup  |  Trackliste

Gespräche, die ich schon über THE DILLINGER ESCAPE PLAN geführt habe: „Zu krass? Das ist Mathcore, Mann, das verstehst du nicht.“ „DAS ist Musik, die haben noch `nen richtigen Plan, nicht so seelenloser Schwachsinn.“ „Alter, hast du diesen Tripletime in den asynchronen Drums gehört? Das ist revolutionär!“ Ähm, ja. Ich habe dann meistens nett lächelnd an meinem Bier genippt und mein Gegenüber reden lassen. Wirklich warm geworden bin ich mit THE DILLINGER ESCAPE PLAN nämlich nie wirklich. Bis heute kann ich allerdings nicht sagen, woran es letztendlich lag. Konnte ich einfach nie etwas mit Mathcore anfangen? Das konnte es nicht sein, WAR FROM A HARLOTS MOUTH, RINGS OF SATURN oder BETWEEN THE BURIED AND ME sind schon seit Ewigkeiten in meiner Musikbibliothek zu finden und werden auch immer wieder gern gehört. Vielleicht kann ich mit dem vorerst letzten Album der Chaoten aus New Jersey herausfinden, was an THE DILLINGER ESCAPE PLAN bei mir seit Jahren diese blasphemische Abwehrreaktion auslöst.

„Dissociation“ umfasst insgesamt elf Songs bei einer Laufzeit von rund 50 Minuten. Und wenn ich ehrlich bin: Nach zehn Sekunden hatte ich schon keine Lust mehr, mir auch nur noch einen weiteren Takt von „Dissonance“ … ich meine natürlich „Dissociation“ anzutun. Dieser Verschreiber war natürlich kein Zufall, denn der Eröffnungstrack „Limerent Death“ kommt derartig schief und widerlich daher, dass es wirklich keinen Spaß mehr macht. Grindcore muss einfach überhaupt nicht sein. Doch bevor ich den Stream beenden kann, höre ich aus den Tiefen meines Musikgewissens die schräge Fistelstimme der EXCREMENTORY GRINDFUCKERS vorwurfsvoll wispern: „Du hörst kein Grind? Oh nein.“ Also gut, dann muss ich da wohl durch. Nach den vier Minuten, in denen ich mich mehr in Richtung Death als in Richtung Limerence (für alle des Englischen nicht mächtigen: Verliebtheit) bewegt habe, wurde ich positiv überrascht: „Symptom of Terminal Illness“ ist erstaunlich melodisch, mit einem angenehm düsteren Einschlag, und mit Vocals, die stark an MASTODON erinnern. Habe ich mich in THE DILLINGER ESCAPE PLAN getäuscht? Zumindest meine Motivation, den Rest des Albums zu hören, war wieder da. Leider ging mir „Wanting Not So Much To As To“ zuerst zu stark in Richtung des Openers, überraschte dann aber ab der Hälfte mit cleveren Jazz-Einlagen und erneutem MASTODON-Feeling gegen Ende. Auch die Screams fügen sich hier wesentlich besser ein als in „Limerent Death“. Die folgende instrumentale Überleitung „FUGUE“ entwickelt sich über seine fast vier Minuten zum richtigen Earcatcher: Ein zuerst simpler Drumbeat, der sich plötzlich über Jazz hin zu düsteren Electrosounds entwickelt? Auf jeden Fall kreativ. In „Low Feels Blvd“ geht es dann wieder mehr zur Sache: Dreckige Screams auf dissonanten Gitarren, unterbrochen von erneut jazzigen Einlagen und fast schon OPETH-artigen instrumentalen Parts – samt Gitarrensoli und Chor im Hintergrund, der ohne Vorwarnung in puren Grind umschlägt. Und was als nächstes passiert, kann ich auch nicht so genau sagen. „Surrogate“ klingt, als hätte Kurt Cobain überlebt und sich entschieden, Mathematik zu studieren und seine Gleichungen musikalisch auszudrücken – mit einem leichten Touch von Heroin. Oh, und MASTODON. Was das heißt? Ich habe keine Ahnung, hört am besten selbst. (Wieso muss ich hier so oft an MASTODON denken?)

Spätestens während „Honey Suckle“ wird mir klar: Leute, die fasziniert von THE DILLINGER ESCAPE PLAN sind, sind auch fasziniert von moderner Kunst. Das ist alles andere als easy-listening. Und obwohl ich nicht sagen könnte, dass ich schlecht finde, was ich da höre, so fällt mir doch keine einzige Situation ein, in der ich in der Stimmung für THE DILLINGER ESCAPE PLAN sein könnte – wenn es im gesamten Spektrum menschlicher Emotionen so eine Stimmung überhaupt geben kann. Der Rest des Albums birgt noch zwei angenehme Überraschungen: „Manufacturing Discontent“ und auch „Apologies Not Included“ sind es aber nicht – sie bestehen aus derselben diffusen Mischung aus Grindcore, Cleangesängen, Jazz und kleinen, eingestreuten musikalischen Details, die einen Song einzigartig machen sollen, sich dann aber nach kürzester Zeit wieder im charakteristischen THE DILLINGER ESCAPE PLAN-Gebretter verlieren. „Nothing To Forget“ sticht als balladeskes Etwas (soweit es in diesem Genre eben geht) allerdings heraus und gefällt mir persönlich auf dem gesamten Album mit am besten. Aber das allerbeste kommt zum Schluss: Der Titeltrack „Dissociation“ hat mich wirklich aus den Socken gehauen. Er ist der mit Abstand ruhigste Track des Albums, aber auch der atmosphärischste. THE DILLINGER ESCAPE PLAN fabrizieren einen Sound, der so tragisch und dramatisch daherkommt, dass selbst mir als Nicht-Fan schwer ums Herz wird. Der melancholische Gesang von Frontmann Greg Puciato, gepaart mit düsteren Electrosounds, eröffnet mir eine ganz neue Seite der Band. Ich bin begeistert.

Nur weil es Mathcore ist, heißt es nicht, dass es gut ist. Ein Genre kann keine Scheiße in Gold verwandeln. Und es wäre doch ein wenig elitär, jedes Mal wenn eine Mathcore-Band absoluten Schrott produziert, es darauf zu schieben, dass der Hörer einfach zu dumm ist. Mathcore ist auch nur Musik, und auch komplexe Musik kann schlecht sein. Zum Glück ist „Dissociation“ nicht schlecht. Aber ich denke, dass ich verstanden habe, was mich an THE DILLINGER ESCAPE PLAN immer gestört hat: Sie wollen zu viel. Wahrscheinlich wird jeder eingefleischte Mathcoreler jetzt meine weniger-ist-manchmal-mehr-Attitüde von Herzen auslachen und mich als verständnislosen Unwissenden abtun, aber meiner Meinung nach wären mehr Struktur und ein klareres Gesamtbild gar nicht schlecht für die eigentlich sehr talentierte Band. Aber einem alten Hund kann man keine neuen Tricks beibringen, und deswegen hoffe ich einfach für alle Fans, dass „Dissociation“ doch noch nicht das Ende war. Meine Lieblingsband werden THE DILLINGER ESCAPE PLAN trotzdem nicht werden, aber ich kann sie musikalisch mehr anerkennen. Auch war die LP mir persönlich, trotz oder gerade in all ihrer Vielfalt, zu eintönig. Vielleicht werde ich mir die älteren Sachen beizeiten intensiver anhören – wenn ich denn die Muße dafür finde. Ich gehe jetzt erst einmal MASTODON hören.



Bewertung: 4.0 / 5.0
Autor: Lucas Prieske (11.10.2016)

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