DISILLUSION - The Liberation

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VÖ: 06.09.2019
Bandinfo: Disillusion
Genre: Progressive Metal
Label: Prophecy Productions
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Lineup  |  Trackliste

Auch wenn mich gleich ganz viele von euch mit Werkzeugkisten beschmeißen werden: Scheiß auf TOOL. Der wahre Prog Kenner hat keine 13, sondern 14 Jahre auf ein neues Meisterwerk seiner Helden gewartet. Die Rede ist dabei nicht von gnadenlos überhypten Amerikanern, sondern von den Leipziger Prog Göttern DISILLUSION. Die Band um Mastermind Andy Schmidt, welches uns 2004 mit "Back To Times Of Splendor" ein kaum zu übertreffendes Meisterwerk in Sachen Härte, Epik, Melodie und musikalischer Finesse beschert hat. Und auch "Gloria", das Zweitwerk, konnte ein Ausrufezeichen in der Metal-Welt hinterlassen. Die Radikalität, mit der Schmidt damals (unabhängig der musikalischen Qualität des Werkes) den Fans des ersten Albums vor den Kopf stieß, ist zumindest mir persönlich auch kein zweites Mal in der Musikwelt untergekommen. Danach wurde es leider lange still um die Band. Aber 2016 erreichte uns mit "Alea" ein erstes Lebenszeichen nach langer Abwesenheit. Und schon dieses eine Stück, welches wie ein Bindeglied zwischen den zwei musikalischen Gegenpolen "Splendor" und "Gloria" anmutete, löste in mir ungeahnte Euphoriewellen aus. Doch nichts hätte mich darauf vorbereiten können, wie nun das erste vollwertige Album nach der Pause einschlägt. "The Liberation" ist nicht nur ein absoluter musikalischer Paukenschlag, es ist das beste Prog Album 2019!

Wo "Alea" endet, dort beginnt "The Liberation" mit dem atmosphärischen Intro "In Waking Hours" und dem Longtrack "Wintertide". Rhythmik, Stimmung und Schmidts Sprechgesang nehmen den Faden von "Alea" auf, doch das Stück schwillt an und baut mit symphonischen Keyboards Spannung auf. Diese entlädt sich in einem wahren Feuerwerk an Blasts und Growls, bevor die großen Melodien Einzug halten. Die ersten fünf Minuten dieses Stückes sind wie eine wahnsinnige Achterbahnfahrt mit überraschenden Drehungen und Wendungen, die dem Hörer den Atem rauben. Nach der Hälfte tritt man bewusst auf die Bremse, ein Folk-Part mit malerischen Akustikgitarren hält Einzug, es ist Zeit durchzuatmen und den Blick über das Klangbild schweifen zu lassen. Am Ende ziehen Spannung und Epik noch einmal an, bevor ein Gänsehautfinale den Song über die Ziellinie trägt. Besser geht es nicht. 

Das Titelstück "The Liberation" ist praktisch die pure Esszenz von DISILLUSION (nicht ohne Grund wird wohl der Bandname subtil in die mitreißenden Lyrics eingebaut) und das Stück, das am ehesten an "Back To Times Of Splendor" erinnert. "The Mountain" wiederum ist ein atmosphärischer, melancholischer und nicht weniger epischer Abschluss. Ein wenig Storytelling, ein wenig Soundtrack-Feeling, und erneut große Melodien. Gänsehaut!

Mit "The Great Unknown", "Time To Let Go" und "A Shimmer In The Darkest Sea" haben auch drei etwas kürzere Stücke den Weg aufs Album gefunden. Wobei Letzteres mit einer Laufzeit von gut acht Minuten auch nicht grad als Schnellhappen durchgeht. Dennoch ist es überraschend dieser Song, welcher eine komplett eingängige und nachvollziehbare Struktur aufweist. Zwei Strophen, ein oft wiederholter (unfassbar süchtig machender) Refrain, ein etwas länger gezogener C-Teil mit einem Gitarrensolo. Klingt easy, und doch ist bei DISILLUSION nichts wie es scheint. Um den Bezug zu den eingangs erwähnten TOOL zu ziehen: Auch hier wird ein recht simpler Song durch ein nuanciertes Arrangement zu einem Meisterwerk. Dies liegt insbesondere am sensationellen Drumming von Joshua Saldanha, welcher sein Kit in diesem Song wie eine Ansammlung diverser Percussions inszeniert und dem Song einen eigenen Drive verpasst. Wo TOOL allerdings zehn Minuten auf der Stelle treten würden, zeigen DISILLUSION, wie hier ein mega eingängiger Song heraus entstehen kann.

Noch besser gelingt dies mit "Time To Let Go". Ich will vorsichtig "Ballade" zu dem Stück sagen. Auch wenn der Titel dem Werk nicht gerecht wird, handelt es sich um das ruhigste und klarste Stück des Albums mit einem absolut unvergesslichen Ohrwurmrefrain. Nicht mal DREAM THEATER schaffen eine derart stimmige Symbiose aus Melodie, Eingängigkeit und atemberaubendem Gefrickel!

Der kürzeste Track auf dem Album, "The Great Unknown", klingt dahingehend überhaupt nicht wie ein gerade einmal sechs Minuten langes Stück. Von der ersten Sekunde, wenn ein brachiales Death Metal Gewitter gestartet wird, über symphonische Elemente, welche den Song an die komplexesten Momente von SEPTICFLESH erinnern lässt, zum Refrain, der avantgardistisches Extrem Metal Songwriting wie BORKNAGAR ins Spiel bringt, bevor dann mit einem psychedelischen Folk-Schlenker Marke OPETH eine Blockbremse durchfahren wird. Hier ist schnell klar, dass es sich um einen monströsen Boliden von Song handelt, den man erst einmal richtig anzupacken wissen muss. Und nach all dem oben Beschriebenen haben wir noch nicht einmal die Hälfte der Spielzeit erlangt. Macht einen schwindelig, will aber sofort noch einmal bewältigt werden!

Allen Stücken ist gemein, dass kein Takt, kein Arrangement, kein Gitarrenslide und kein Drumkick dem Zufall überlassen wurde. Man hört dem Werk jede Sekunde der langen Reifezeit heraus, hier ist nichts einfach so platziert. Wie bei einem sorgfältig konstruierten Gemälde, wie bei einer perfekten Fotografie, wie bei einem großen Kunstwerk hat jede Komponente seinen speziell zugeordneten Platz. Die ganzen Details zu entdecken, sie zu analysieren und zu interpretieren, das wird ein Spaß sein, mit dem werden wir noch viele Monate lang zu tun haben. Und dennoch klingt das Album nicht verkünstelt, gewollt intellektuell oder aufdringlich. Es ist zugänglich für den Gelegenheitshörer, wie für den Prog-Nerd zugleich.

Fazit: Wenig "Gloria", ganz viel "Splendor", Melancholie, Epik, Härte, Atmosphäre, Hooks, Breaks, Twists und Turns, Gänsehaut! Alles, was man braucht und mehr. Wenn ihr ein perfektes Prog Album sucht: Hier ist es! 



Bewertung: 5.0 / 5.0
Autor: Christian Wilsberg (12.09.2019)

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