INFECTED RAIN - Ecdysis

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VÖ: 07.01.2022
Bandinfo: INFECTED RAIN
Genre: Nu Metal
Label: Napalm Records
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Lineup  |  Trackliste  |  Credits

Etwas über zwei Jahre sind vergangen, als die 2008 im moldawischen Chișinău gegründete Nu–Metal–/Alternative–Metal–Band INFECTED RAIN mit „Endorphin“ eine durchaus beeindruckende Duftmarke in ihrem Genre hinterließ. Nun legt die fünfköpfige Truppe um die ebenso stimmgewaltige wie charismatische Sängerin Elena Cataraga aka Lena Scissorhands ihre fünfte Langrille mit dem Titel „Ecdysis“ vor, worüber sich die treue und begeisterungsfähige Fangemeinde natürlich freut wie Bolle.

Nach drei vorab veröffentlichten und mit exzellent inszenierten Musikvideos garnierten Singles war die Vorfreude auch mehr als berechtigt. Auch ich war geneigt, nach diesen Appetizern ein starkes Album zu erwarten. Jedenfalls bietet das zwölf Songs umfassende, 55–minütige Werk neben einer ausdrucksstarken und facettenreichen weiblichen Stimme auch melodisches, musikalisch solides und kraftvoll arrangiertes Material aus der ambitionierten Songschmiede der Band, deren Stil wohl irgendwo zwischen Nu–, Alternative– und Melodic Death Metal zu verorten ist. Jeden Song durchzukauen würde wahrscheinlich den Rahmen sprengen, daher beschränke ich mich mal auf die Besprechung der besonderen Anspieltipps.

Bereits im Oktober erschien „Postmortem Pt. 1“, womit die Band sogleich keinen Zweifel daran ließ, dass die Corona-Zwangspause sinnvoll genutzt wurde und die musikalische Kreativität nicht gelitten hat, im Gegenteil. Mit modernen, spacig anmutenden Sound–Elementen klingt der Song frisch und innovativ, wenn auch ziemlich düster angehaucht. Lenas Screams sind eindringlicher denn je und sorgen für reichlich emotionale Vibes, wobei auch ihre bemerkenswerte Klarstimme zum Einsatz kommt. Eine sehr starke Nummer, die nicht grundlos auch als Opener des taufrischen Silberlings herangezogen wurde. Die expressive Abrissbirne „Fighter“ ist ebenfalls ein Pre–Release mit inspirierender Botschaft an die Damenwelt. Lena erklärt: „‘Fighter‘ ist eine Erinnerung an Stärke und Potenzial, inspiriert von starken Frauen, die niemals aufgeben.“ Das mag klischeehaft klingen, doch dass Lena aus eigener Erfahrung heraus keine leeren Worthülsen in ihre Texte packt, ist kein Geheimnis.


Anfang Dezember gab es mit „The Realm of Chaos“ auch noch ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk an die Fans in Form einer Co–Produktion mit Heidi Shepherd (BUTCHER BABIES). Die beiden befreundeten Ladys interagieren hier recht explosiv, wobei Lena ganz klar die Akzente setzt. Schade eigentlich, denn von Heidi hätte ich gerne ein wenig mehr gehört. Die bedrohlich dröhnenden Gitarren machen richtig Laune; für mich einer der Höhepunkte der Scheibe. Apropos: Das halb balladeske „Goodbye“ hat absolutes Ohrwurm–Potenzial. Wenn es überhaupt noch eines Beweises bedurfte, dass die Band richtig gute, mitunter auch kompositorisch anspruchsvolle Stücke kreieren kann, dann findet sich dieser genau hier. Lenas klare Stimme wirkt stellenweise fast zerbrechlich; ihr Part bei 02:37 hat dann so etwas wie den „Wow!–Effekt“. Dennoch haut sie auch hier wieder ihre charakteristischen Screams heraus – an stimmlicher Spannbreite mangelt es der Dame, die in Las Vegas lebt und sich auch als Tattoo–Model einen Namen gemacht hat, ohnehin nicht. Mit Superlativen halte ich mich generell eher zurück, doch „Goodbye“ gehört für mich jetzt schon zum Besten, was die Band meinen Lauschern je angetan hat – und das war nicht wenig.

Das dynamische „Longing“ überzeugt mit schneidigen Hooks und „Everlasting Lethargy“ mit seinem vergleichsweise ruhigen Mittelteil – alles solide ausgearbeitete Ware. „These Walls“ kommt mit einem gehörgangskompatiblen Chorus daher; auch „November“ kann ich empfehlen: Nach poppigem Start entwickelt sich der Song zu einem flotten, melodischen Rocker, der keine Gefangenen macht. Fast überflüssig zu erwähnen, dass Lenas krawalliger Gesang auch diesen Song prägt. Das atmosphärische „Nine, Ten“ erinnert an die Gänsehautballade „Storm“ vom Vorgängeralbum, bevor sich dann mit dem gelungenen und mit schönen Cleans angereicherten Rausschmeißer „Postmortem Pt. 2“ der Kreis zugunsten eines denkwürdigen musikalischen Streifzugs durch die Welt des modernen Metals schließt.

Im direkten Vergleich mit dem ohnehin schon ausgereiften und teilweise recht düsteren Vorgänger „Endorphin“ wird hier jedenfalls noch mal ein Schüppchen draufgepackt. Nein, leichte Kost war die Musik von INFECTED RAIN noch nie, und auch hier überzeugen die tiefgängigen Lyrics aus Lenas Feder sowie die gesamte Atmosphäre des Albums gleichermaßen. Hinzu kommen melodische, ohrwurmverdächtige Refrains, die sich mühelos ins Gehör fressen. Auch die Spielfreude der Band ist unüberhörbar, was sowohl für das scharfe Riffing, als auch für das markante und punktgenaue Drumming gilt. Auffällig ist jedoch, dass Lena weniger growlt und dafür mehr Screams zum Vorschein kommen. Dennoch macht ihre stimmliche Präsenz nach wie vor einen Großteil der Musik von INFECTED RAIN aus, ohne wie reiner Selbstzweck zu wirken.

Ich bin jedenfalls geneigt, INFECTED RAIN mit „Ecdysis“ ihr bis dato bestes Schaffenswerk zu unterstellen. Zumindest kann „Ecdysis“ dem hochgelobten „Wallflowers“ von Jinjer meiner bescheidenen Meinung nach durchaus das Wasser reichen. Eine der Stärken der Scheibe ist zudem die musikalische Geschlossenheit; Filler oder gar schwache Nummern sind Fehlanzeige. Die progressiven, elektronischen Elemente mögen hier und da etwas exzentrisch wirken, passen aber letztlich ins musikalische Konzept des Quintetts. Dass die Qualität der bärenstarken ersten Hälfte des Albums in der zweiten Hälfte nicht ganz zu halten ist, ist nicht weiter tragisch. Selbst diejenigen Songs, die nicht so sehr herausragen wie andere, sind immer noch gut genug, um nicht der Skip–Taste zum Opfer zu fallen. Definitiv erwähnenswert ist auch die gute Produktion, d. h. der Sound ist kristallklar und druckvoll, was ja nicht bei allen Bands selbstverständlich ist. Hut ab: INFECTED RAIN haben hier gleich zu Beginn des neuen Jahres einen echten Wirkungstreffer gelandet, der hoffentlich noch lange nicht das Ende der Fahnenstange darstellt.



Bewertung: 4.5 / 5.0
Autor: Christian Flack (05.01.2022)

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