NE OBLIVISCARIS - Exul

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VÖ: 24.03.2023
Bandinfo: NE OBLIVISCARIS
Genre: Progressive Death Metal
Label: Season of Mist
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Lineup  |  Trackliste  |  Credits

Und nun zu etwas ganz anderem. Bereits von Weitem sind die weißen Segel der heiligen Hallen eine der Hauptstätten von Australien, Sydney, zu erblicken, die der Oper.  Einst fanden sich Sträflinge in den Häfen ein. Kolonialismus, Besiedelung, fruchtbare Erde.
Jahrhunderte später wagen sich NE OBLIVISCARIS auf erschlossenes Terrain, das sozusagen einer Reconquista gleicht, die bereits verloren scheint: „Exul“, die vierte Langrille, ist ein Album, das sich unter anderem Problemen des modernen Menschen widmet, dessen Auswirkungen schwerwiegend sein werden, etwa der Klima-Wandel.
Weiter muss der bescheidene Verfasser anmerken, diese Band, spät, eher durch Zufall erschlossen zu haben. Nichtsdestotrotz war „Urn“, die zweite Langrille von NE OBLIVISCARIS eine ähnliche Offenbarung wie „Lateralus“ von TOOL. Diese Verquickung aller künstlerischen Sinneswahrnehmungen Musik, Text, Bild wurden zu einem großartigen Monolith progressiven Sendungsbewusstseins vereint, und ja, die Theatralik dieser Worte ist mir bewusst. Es ist, als würde Arthur Rimbaud [Anm. des Verf.: fr. Lyriker und Abenteurer], die Kithara von Orpheus auf dem Weg in die Unterwelt zupfen und dabei der Heilige Geist in diversen Stimmen brabbeln, die jeder und jedem verständlich sind.

Es sei hier ein kurzer Ausschnitt der Lyrics von „A Plague Flowers The Kaleidoscope“, welche eigentlich auf „Urn“ zu finden ist, angefügt, um in etwa den Symbolismus, auf den die Band hinauswill, erfassen zu können:

Kings of this carousel
Disfigured upon white horses
With Goya's claws and Dore's wings
Down golden locks to red crosses
Crowned children screaming from
Funeral shrouds
To rapid eye movement, heart-strings undone
Our beautiful filth dances
And plague flowers


Equus“ (lat. Pferd): Mit 8/4-Takten startet das Intro in Form einer geilen Bass-Line, die das Schlagzeug zu unterstützen weiß. Zwölf Sekunden später setzen Gitarren ein, 15 Sekunden später kündigt die Geige das erweiterte Intro an. Nach etwa einer Minute tritt  der Duktus zurückhaltender auf, damit die cleane Stimme des Sängers bzw. Violinisten Tim Charles einwandfrei in diese Langrille einsteigen kann. Als Growler bzw. Screamer Xenoyr ins Geschehen eingreift, dessen Gesang sich vorzüglich mit Tim Charles vermengt, ist der Rahmen abgesteckt. Ab und an wurde das, wie war das, Nähmaschinen-Schlagzeugspiel von Daniel Presland kritisiert, wobei ich mich dieser Kritik nicht anschließen kann. Dieser pulsierende Herzschlag, der das vorzügliche Bass-Spiel von Martini Garattoni vor sich hertreibt, die wiederum gemeinsam den Rest der Crew unterstützen und dem ganzen Sound vorzüglichen Drive geben, erinnern mich an dieses hypnotische Trommelspiel von SEPULTURA "Roots" oder GORIJA "Amazonia" technisch anspruchsvoll dargebracht. Das eigenwillige Solo-Spiel von Benjamin Baret tut sein Übriges, um Hörer*innen dieser Art von Metal, Melodic Black Metal, Progressive Melodic Death Metal, die Etikettierung ist nachrangig, in meisterhafter Umsetzung darzubringen.

Misericorde I“: weicht im Duktus wenig vom Opener ab, die interessanteste Stelle ist, etwa ab Minute 2:35, als in diesen schweren, dichten Duktus von Dampfhammer-Metal die Violine reingrätscht und es hört sich so natürlich an, als wäre dieses Streichinstrument ein ureigenes dieses Genres. Wenige Sekündchen später ist eine Sequenz eingeflochten, die rein aus Streichinstrumenten besteht und es klingt sowas von bist du deppat oida, des foaht, do brauchst net obeglengan. Bitte geschätzte Hörer*innen anhören, meine läppischen Worte werden dieser Nummer nicht gerecht.

Es sei jedenfalls geschrieben, dass der Titel "Misericorde" eine interessante Dualität aufweist. Erstens wurde der Misericorde, der als schmale, lange Stichwaffe ausgeführt war, sozusagen als Gnadendolch angewandt, der zwischen den Rüstungsteilen plaziert wurde. Auf die Redewendung "Den Arsch aufreißen" wollen wir hier nicht eingehen. Zweitens ist mit Misericorde das lateinische Wort für Gnade gemeint. Selbst in den Lyrics ist diese Dualität zu finden. So nebenbei, es geht wohl um den Ukraine-Krieg. Zur allgemeinen Erhellung seien hier ein paar Textzeilen angefügt:

Foresight - finite
Praised angels, as the flesh falls
War from within
Within
’Neath armour, this withered skin
Righteous and malignant
This poisoned pale
Glorious putrefaction


Misericorde II“: Die Schönheit des musikalischen Augenblicks in 9:21. Ich weiß keine besseren Worte, die der Nummer gerecht würden. Heiße, salzige Tränen kullern über meine Wangen. Mit diesen beiden Nummern haben NE OBLIVISCARIS endgültig Großmeisterstatus der Luftmagie erreicht.

Suspyre“: Abgesehen von MAHAVISHNU ORCHESTRA, die Fusion zuzuordnen sind, habe ich keine Band gehört, die Streicher vortrefflicher in eine Metal-Nummer eingebaut hätten. Großartiges Lied. Ich möchte hier nur auf zwei Dinge eingehen. Wie wunderbar Violinist bzw. Sänger Tim Charles die Geige in einen rein metallastigen Duktus einbaut, etwa ab Minute 4:10, um wenige Stunden später seine glockenklare Stimme von gepickten Gitarren getragen zu wissen, die fast an klassische Ausformung erinnern.

Graal“ bietet wie alle anderen Lieder dieser Langrille formvollendeten Melodic Death Metal. Interessant finde ich, dass die beiden Sänger sozusagen kommunizieren, ab und an kommunizierende Gefäße darstellen und manchmal beschränkt Tim Charles die Kommunikation mit Xenoyr auf nonverbale Kommunikation, nämlich mittels Geige. Weiter sei gesagt, dass ich das Video nicht restlos verstanden habe, es mag wie „Equus“ um den Klima-Wandel gehen, jedenfalls ist es ästhetisch anspruchsvoll voll von Allegorien und wenig überraschend mag ich es sehr.

Anhedonia“: Die bei weitem kürzeste Nummer kommt nicht über 3:42 Minuten hinaus. Musikalisch wird mit einer weiteren Überraschung aufgewartet. Ein dezent statisch eingesetztes Klavier, das abwechselnd zwei Akkorde anschlägt, trägt den vorzüglichen Gesang von Tim Charles, der hier einmal mehr seine mannigfaltigen Qualitäten unter Beweis stellt. Natürlich darf die Violine nicht fehlen. Am Ende entschwindet alles in einer Kakophonie, die, wie ich glaube, Vergänglichkeit darlegen soll. Der Terminus Anhedonia entstammt dem Griechischen und bezeichnet die Unfähigkeit des Menschen Lust bzw. Freude zu empfinden, wobei eine psychische Störung zu Grunde liegt.

Fazit: Was sollte ich an diesem Meisterwerk kritisieren wollen? Womöglich den Sound, der meiner Meinung, nicht klar genug, nicht differenziert genug kömmt, aber das ist, ohne die Vinyl-Ausgabe in Händen gehalten zu haben, schwierig zu beurteilen. Ne OBLIVISCARIS überzeugten mich von Anbeginn. So ist „Exul“ ebenfalls die Höchstwertung nicht zu verwehren. Mehr kann moderner Metal nicht bieten. Unter den bisher meinerseits rezensierten Alben, unter denen großartige Werke waren, nehmen wir etwa DVNE, VILDHJARTA, LUNA´S CALL, sticht NE OBLIVISCARIS mit „Exul“ heraus. Aus meinem subjektiven Blickwinkel haben wir es hier mit der ambitioniertesten Band dieses Erdenrundes zu tun.



 



Bewertung: 5.0 / 5.0
Autor: Richard Kölldorfer (20.03.2023)

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