NIGHTWISHs "Endless Forms Most Beautiful" - eine persönliche, grenzenlos subjektive Aufbereitung

Veröffentlicht am 24.03.2015

Wie bei vielen Metalfans hat's auch bei mir damals mit den üblichen Verdächtigen angefangen. Darunter auch NIGHTWISH. Seit gut 8 Jahren währt diese Verbindung nun und "Oceanborn" sowie "Century Child" zählen auch heute noch zu meinen absoluten Favoriten und sind im Genre zumindest meiner Einschätzung nach an der nahezu unerreichten Spitze. Seitdem ist viel passiert. Man hatte zwei vakante Wechsel am Mikrofon und bestreitet seit "Once" konsequent einen immer bombastischeren Weg, was 2011 in "Imaginaerum" als Musik gewordenem Film gipfelte.

Nun haben wir 2015 und da isses also: Das nächste beste Album aller Zeiten, "Endless Forms Most Beautiful" von NIGHTWISH. Just kidding. Seit der Festanstellung - sofern man bei den Finnen überhaupt davon reden kann - von Floor Jansen ging jedenfalls ein regelrechter Ruck durch die gigantöse Fanbase vom erfolgreichen Finnlandexport. Ohne auch nur einen einzelnen Ton des neuen Epos' gehört zu haben, konnten sich einige Unverbesserliche die übertriebenen Lobeshymnen nicht verkneifen. Da fragt man sich berechtigterweise: Was hat Anette Olzon all den Menschen getan? Ich werde darauf zurückkommen.

Die Taschentuch-Industrie freuts, denn die feiert Hochkonjunktur. Die Girls können sich ihre Tränen ob Holopainens schier unendlicher Genialität nicht zurückhalten und die Kerls... naja, ihr wisst schon. "Imaginaerum" jedenfalls soll eine einmalige Geschichte bleiben, weswegen NIGHTWISH in einem der unzähligen Albumtrailer vollmundig erklärt haben, die Orchester-Passagen drastisch reduziert und den Sound aufgeräumt zu haben. Und dann legt "Shudder Before The Beautiful" fulminant los. Herzlichen Glückwunsch, das ist wohl die skandinavische Variante der Entschlackung. Macht aber nix, denn positiverweise braten die Gitarren hier gehörig und dem nicht genug frickelt Herr Vuorinen auch noch ein nettes Solo zurecht. So heavy habe ich NIGHTWISH seit "Slaying The Dreamer" nicht mehr vernommen.

"Weak Fantasy" fährt dann einen ähnlichen Härtegrad auf, meistert eine Mischung aus walzenden Riffs, groovendem Bass, und einem treibenden, orchestral unterstützten Refrain mit Bravour. Besonders auffällig und frisch für's nightwish'sche Klangkleidchen sind die irisch angehauchten Akustik-Vibes, die SAXON-Fans wohl in ähnlicher Form aus dem Song "Made in Belfast" bekannt vorkommen könnten. Leider können Tuomas und Co. an diesem prächtigen Prolog nicht ganz anküpfen, was in erster Linie an "Élan" liegt, das schon als Single eher unglücklich agierte und durch seine viel zu softe Ausrichtung im Kontext zwischen den autoritären "Weak Fantasy" und "Yours Is An Empty Hope" völlig untergeht. Textlich mag "Élan" für den ein oder anderen ja den erwünschten Motivations-Effekt haben, musikalisch bremst es "Endless Forms Most Beautiful" an dieser Stelle platziert jedoch merklich aus und will eigentlich nicht mal so recht zum Album passen.

Immerhin beginne ich zu verstehen, wie NIGHTWISH ihre Abrüstung definieren: Als überfrachtet kann man eigentlich nur den 24-minütigen Longtrack "The Greatest Show On Earth" auffassen, da man ansonsten sehr genügsam mit opulent-theatralischen Streichern und Chören, die das Vorgängerwerk klar dominiert haben, umgeht und vor allem der Saitenfraktion erheblichen Raumgewinn gestattet. In diesem Zusammenhang fallen auch das eher balladesk adjustierte Stück "Our Decades In The Sun" und das langsam aufblühende "Edema Ruh" erfolgreich auf, die unerwartet unkitschig das Geschehen auflockern und bei so mancher Keyboard-Passage auch mal an den klassischen NIGHTWISH-Stoff erinnern. An den ist auch der Titeltrack angelehnt, der durch vereinzelte Orchester-Einspieler an Kraft gewinnt und gründlich Dampf ablässt.

In der Zwischenzeit frage ich mich aber immer wieder, was eigentlich Floor Jansen so treibt, weil sich hier zuweilen auch ihre direkte Vorturnerin tummeln könnte. Ein bisschen gespannt bin ich ja schon, wie all die Anette-Ära-Kritiker und Tarja-immer-noch-Hinterherweiner erklären wollen, dass man grundsätzlich überhaupt keinen Qualitätsunterschied identifizieren kann. Man kann sich einen einbilden, aber pragmatisch gedacht hätte man hier auch Fräulein Olzon an's Mikro stellen können, da Mastermind Tuomas auch hier keinen Bock auf größere, operettenhafte Gesangsausflüge hatte, weswegen sich die beiden Damen im direkten NIGHTWISH-Vergleich nahezu ebenbürtig sind. Sorry, wenn da die ein oder andere Illusion zerstört wurde, aber so ist das eben, wenn man sich aufgrund einer Live-Veröffentlichung mit vielen Bandklassikern Luftschlösser baut. Kurz gesagt: Frau Jansen könnte deutlich mehr, zeigt aber nicht mehr.

Wenn daraus einen ganzer Schuh werden soll, muss man aber auch erwähnen, dass "Endless Forms Most Beautiful" wie schon "Imaginaerum" in seiner Intention gesanglich nichtsdestotrotz großartig ist. Wenn man sich eben nicht zu den ewigen Tarja-Romantikern zählt. Floor spielt ihre Variabilität zwar nicht in ihrer Gänze aus, offenbart dafür aber in den ruhigeren Phasen ungekannte Facetten und verpasst den ohnehin schon härteren Abschnitten zusätzlich Energie. Als Höhepunkt kann man da das sich immer weiter steigendere "Alpenglow" auffassen, das im Übrigen wie auch "My Walden" bei den anfänglichen Hördurchgängen etwas verdeckt wird, von Zeit zu Zeit aber beachtlich wächst.

Kai Hahto übrigens hatte wohl eher weniger Spielraum, füllt seine Rolle aber trotzdem sehr gut aus und dürfte aus dieser Session zumindest mitgenommen haben, dass man nicht unbedingt ein eigenes Studio mit Sauna benötigt, um in weniger als 10 Jahren ein größeres Werk auf die Beine zu stellen. Man verzeihe es mir, aber der musste sein.

Unauffällig sind auch das zu langgestreckte "The Eyes Of Sharbat Gula"-Instrumental und Troy Donockley mit seinen Uillean Pipes. In zwei bis drei Songs hat er als Flötist und Sprecher seine Kurzmomente, ansonsten ist da aber glücklicherweise Sendepause, weil dieses irische Dudelinstrument in den letzten Jahren im Symphonic Metal schon zur Genüge ausgereizt wurde.

Wer sich jetzt noch über folgendes wundert: Nein, Marco Hietala hat tatsächlich kaum Präsenz auf "Endless Forms Most Beautiful" und darf sich nach diversen Kurzauftritten lediglich im bereits angesprochenen "The Greatest Show On Earth" einige Male mit seinem weiblichen Gegenpart duellieren. Sonderlich vermisst habe ich ihn ehrlicherweise aber auch nicht. Achja, der Longtrack... wo soll man da bloß anfangen? Was wurde da im Vorfeld nicht alles gequasselt: Über 600 Tonspuren, einzig das blieb hängen. Was letztlich daraus geworden ist, ist kaum überraschend und somit auch weniger enttäuschend. Epische, überlange Songs waren einfach noch nie des Holopainens Stärke. Und wenn, dann nur unter Mithilfe renommierter Fachkräfte, wie "Ghost Love Score" einst zeigte. "The Greatest Show On Earth" fehlt es einfach an vielem. Essenziellem. Fließende Übergänge, einen konstanten Spannungsbogen sowie Aha-Momente sucht man hier leider überwiegend vergebens. Stattdessen wird man u.A. mit deplatzierten Sprechpassagen sowie unnötigem Tiergelaber und Eingeborenengesang bombadiert, die das "Erlebnis" unnötig strecken und die brauchbaren Stellen auf sich alleine stellen. Jedes Wasserrauschen und Vogelgezwitscher jeder noch so beliebigen Pagan Metal Band klingt besser integriert als dieser. Will heißen, dass es auch 15 Minuten weniger getan hätten und aufgrund der Zusammenhangslosigkeit auch zwei bis drei einzelne, vernünftige Songs rausgesprungen wären. Im Deutschunterricht wäre das eine glatte Verfehlung des Themas. Nachsitzen, Herr Holopainen. Am besten bei MOONSORROW. Und dann wird ihm stundenlang "Tulimyrsky" vorgespielt. Wunschdenken, nicht mehr.

Wie kann man "Endless Forms Most Beautiful" nun werten? Das überlasse ich anderen. Weil NIGHTWISH bei mir ein doch sehr stark persönliches Thema sind und die Chose somit nochmal eine Ecke subjektiver als ohnehin schon wird, wollte ich zu diesem für mich doch sehr speziellen Release meine Meinung abgeben, die wie gesagt auch Aspekte beleuchtet, für die man in einer Rezension eventuell nicht genügend Raum oder Relevanz findet. Fakt ist für mich aber: Wenn mir ein Album Anlass gibt, einen halben Roman runterzudichten, macht es vieles richtig. Und das tut "Endless Forms Most Beautiful" trotz einiger Verfehlungen auch. Die deutlich metallischere Gangart, die dosierteren Orchesterpassagen, der gewohnte Abwechslungsreichtum und in erster Linie das Growerpotenzial machen das achte NIGHTWISH-Album reizvoll. Natürlich lassen sich Querverweise zu früheren Alben ziehen, aber abgesehen davon steht auch dieses Werk wieder für sich. Erwarten kann man allerdings eine Band, die zusammen hörbar viel Spaß hat und sich mit "Endless Forms Most Beautiful" zunächst direkt neben den letzten zwei Longplayern einordnet. Auf seine Art und Weise.

Beschäftigen wird es mich auf jeden Fall noch ewig, so viel ist gewiss. Die Euphorie ist zwar nicht mehr so ungebremst wie früher, ungeachtet dessen und der auftretenden Schwächen aber fesselt mich die NIGHTWISH-Magie immer noch. Nach all der Zeit...


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