DARK TRANQUILLITY - Das "Moment" Gangbang Review

Der Moment. Mal ist er positiver Natur, mal negativer. Mal ist es nur ein beiläufiger oder gewöhnlicher, den man flugs vergisst, mal hält man die Erinnerung an ihn wach, manchmal gar ein ganzes Leben lang. Einer der wichtigsten Momente in meinem Leben als Kunstverehrer war zweifelsohne der, in dem ich die Schweden DARK TRANQUILLITY mit ihrem damals frisch erschienenen "Fiction" (2007) kennenlernte. Die emotionale Tiefe, die den Melodic Death Metal anreicherte, faszinierte und fesselte mich auf eine besondere Weise, die ihnen in der Göteborg-Szene exklusiv zu Eigen war und immer noch ist. Und auch für das Sextett aus dem Västra Götaland gab es sicherlich zahlreiche Momente, Meilensteine, an die man sich auch heute noch zurückerinnern wird. Wesentlich schwerwiegender dürfte allerdings der Moment gewesen sein, in dem Gründungsmitglied Niklas Sundin seinen Ausstieg mitteilte, woraufhin man zum ersten Mal seit - ja, seit wann eigenlich? - 1991 auf ihn verzichten und ein neues Album mit einem gänzlich neuen Gitarristenduo aufnehmen musste. Diese ersten Momente der aktuellen Konstellation sind auf, ihr wisst das natürlich schon, "Moment" festgehalten.

Die beinahe apokalyptische Stimmung, die nach der traurigen Verkündung unter einigen Fans vorherrschte, teilte ich trotzdem nicht, schließlich wurde die Last nicht einfach nur auf vier beliebigen Schulterblättern verteilt, sondern eben auf denen von Johan Reinholdz, der Sundin live bereits seit 2017 vertrat und daher mit dem Stil vertraut sein dürfte, und Christopher Amott, einer Melodeath-Legende, die ebenfalls live aushalf und ich sicherlich nicht weiter vorstellen muss. Nur so viel dazu: selbst wenn im Zusammenhang mit ARCH ENEMY stets seinem Bruder Michael Amott die größere Aufmerksamkeit zuteil wurde, waren "War Eternal" und "Will To Power" ideales Anschauungsmaterial dafür, dass Chris kaum zu ersetzen und damit eben weit mehr als eine Randfigur ist. Doch wie schlagen sich die beiden im DT-Kosmos, wenn sie unmittelbar Verantwortung übernehmen müssen? Sehr sehr gut.

Was vielen Hörern bereits bei den Vorabsingles richtigerweise aufgefallen ist, lässt sich durchaus auch vom gesamten Album behaupten: Ohne an Atmosphäre einzubüßen, klingen DARK TRANQUILLITY auf "Moment" wieder etwas lockerer und rifflastiger, bauen deutlich wahrnehmbar mehr Gitarrenmelodien unterschiedlichster Färbungen, Soli und unzählige kleine Details ein ("Phantom Days", "Identical To None", "Failstate", "A Drawn Out Exit" und "Empires Lost To Time"). Hier möchte ich ansetzen, denn kombiniert mit den kälteren, manchmal gar abweisenden Stimmungen von "Construct" und "Atoma" bzw. den "gothischeren" (Dark-Metal-)Songs inkl. dem charismatischen Klargesang von Mikael Stanne (die grandiosen "The Dark Unbroken", "Remain In The Unknown", "Eyes Of The World" und "Ego Deception" könnten auf diese Weise einen Block bilden, das härtere "Standstill" wird lediglich im Refrain damit aufgebrochen) ergibt das eine spannende Bandbreite, an die ich mich einerseits zwar erst gewöhnen musste, doch die mich andererseits auch immer wieder - kein Album habe ich in den vergangenen Wochen so häufig wie "Moment" gehört - magisch angezogen hat. Einzig das auf den Opener folgende "Transient" erschließt sich mir immer noch nicht vollständig und gestaltet den Einstieg etwas schwieriger, doch dafür ist das überwiegend elektronische Finale "In Truth Divided" umso fulminanter und ergreifender.

Lange habe ich überdacht, wie ich "Moment" letztlich bewerten soll, weil sich ebendies im Kontext der eigenen Erwartungshaltung zunächst irrsinnig schwierig gestaltete. Ist man wirklich enttäuscht oder klingen DARK TRANQUILLITY logischerweise einfach nur anders als vorher und brauchen daher Zeit? Ist es großartig und ich verkenne gerade die Qualitäten des Albums? Was für Rezensenten oftmals ein Segen ist, nämlich ein Album frühzeitig erhalten und dementsprechend weitestgehend getrennt von äußeren Einflüssen und Meinungen anderer Hörer analysieren zu können, entzaubert sich manchmal auch als Fluch - speziell bei Bands und Künstlern, die man verehrt. Weil umgehend der evaluierende Teil des Kopfes anspringt und man sich schwer dabei tut, einfach nur zu genießen oder sich auf etwas einzulassen. Letztlich konnten sich DARK TRANQUILLITY aber über diesen Mechanismus hinwegsetzen und mich vollends überzeugen, was sich u.a. dadurch begründet, dass man den bisherigen Weg nicht stur forcieren wollte, sondern Amott und Reinholdz Freiheiten gelassen hat, die besonders dem manchmal etwas verkopften "Construct" gutgetan hätten. Wo genau es sich platzieren wird, ist aktuell ohnehin für eine seriöse Beurteilung zu verfrüht, doch unabhängig davon ist "Moment" ein abwechslungsreiches, textlich gar herausragendes Spätwerk, dessen großartige und wesentlich zielstrebigere Songs den zuletzt eingeschlagenen Stilkurs nahbarer, greifbarer machen.

 

4,5 von 5 Punkten


Inhaltsverzeichnis:

Seite 1: Einleitung
Seite 2: Pascal Staub
Seite 3: Anthalerero Majere
Seite 4: Ernst Lustig
Seite 5: Hans Unteregger
Seite 6: Lord Seriousface
Seite 7: Fazit


WERBUNG: Hard
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