Christmas Burns Red!

Veröffentlicht am 14.12.2020

Ein kleines Schreiberlein ist in der Zwickmühle. Eigentlich hatte es geschworen, niemals eine Streaming-Show zu rezensieren... doch dann wurde es bei der Ankündigung des Weihnachtsstreams von AUGUST BURNS RED, noch nie live gesehen, aber im Frühjahr mit dem aktuellen Album „Guardians“ nachhaltig den Quarantäne-Lagerkoller therapiert, schwach. Da sitzt es nun, im heimatlichen Wohnzimmer, den schnurrenden vierbeinigen Mitbewohner auf dem Schoße und starrt in zuckende Lichter auf dem virtuellen Arbeitsplatz, an dem normalerweise die fotografischen Konzertdokumente ihren letzten Schliff erhalten.

Um weder die eigenen Schwüre zu untergraben, noch die Pflicht der Berichterstattung zu vernachlässigen, wird das Wort darob an ebenjenen pelzigen Mitbewohner übergeben, welcher euch, damit dies zu keiner furztrockenen Analyse verkommt, nun seine Sicht der Dinge schildern wird...

 


 

Mein Dosenöffner, mein Sklave, mein Mensch ist seit einiger Zeit ständig zuhause. Normalerweise habe ich abends meine Ruhe, weil mein Mitbewohner, der hier für Essen und Ordnung sorgt, für etwas das er „Konzerte“ nennt, regelmäßig außer Haus ist. Heute hat er endlich wieder so etwas erwähnt und ich hatte mich schon auf einen ruhigen Abend gefreut, doch wider Erwarten wurden keine Vorbereitungen zum Verlassen des Hauses getroffen. Mein Mensch macht eigentlich alles wie immer in den vergangenen Monaten aber erklärt mir, da ich ihn inzwischen gut erzogen habe, beiläufig, dass er heute das erste Mal einen sogenannten „Livestream“ rezensieren wird. Ich beschließe, diese Neuerung mit Argusaugen zu überwachen und platziere mich auf seinem Schoß, um nichts zu verpassen. Beiläufig bringe ich meinen Sklaven mit meinen Krallen in die richtige Position, damit ich das Schauspiel bequem verfolgen kann. Vielleicht lüftet sich nun endlich das Geheimnis, was mein Dosenöffner immer außer Haus getrieben hat und ich lerne vielleicht, wie ich ihn dazu bringen kann, dieses Verhalten wieder aufzunehmen.

Was ich sehe ist hübsch und bunt und was da aus den Lautsprechern tönt, klingt eigentlich wie das, womit mein Mensch auch sonst die meiste Zeit des Tages meine Bude beschallt. Der Sklave macht sich schon fleißig Notizen, während ich drohe das Interesse zu verlieren, da sich bis auf eine leere Bühne und ein paar eingeblendete Comicfiguren noch nicht sehr viel tut. Mein Mensch lobt indes das schöne Bühnenbild mit beleuchteten Weihnachtsbäumen und künstlichem Schnee, sowie das liebevoll dekorierte Drumkit mit Geschenkpaketen und Christbaumkugeln, die an meinen Spieltrieb appellieren. Nachdem nun eine Lesung im weihnachtlichen Ambiente, die mein Mensch als sehr passend und als gute Idee empfindet stattfindet, döse ich ein wenig weg.


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Doch dann erwacht schlagartig das Interesse, als sich zuckende Lichter auf dem Bildschirm ausbreiten und grimmig dreinblickende Musiker einen Weihnachtssong durch den hartmetallischen Fleischwolf drehen, was meinem Menschen sichtlich Vergnügen bereitet. Die Tasten klappern und ich kann neben rüttelnden Grooves und Breakdowns, die von Geschrei und sichtlich viel aufgestauter Energie begleitet werden, einen Blick auf Lob auf das Bühnenbild, sowie die teils coolen Kameraeinstellungen (zB ein Fisheye hinter dem Drumkit) erhaschen. Auch dass für jeden gespielten Song ein schönes Logo designt wurde, welches zu Beginn des jeweiligen Titels eingeblendet wird, findet der Dosenöffner erwähnenswert.

Ich bin indes von den bunten Lichtern, die in vielgestaltiger Form und rhythmisch zu den gespielten Klängen passend über den Bildschirm zucken angefixt und muss dem Drang widerstehen, die energiegeladen herumhüpfenden kleinen Männchen jagen zu wollen. Nein, langweilig ist es wahrlich nicht, was sich mein Mensch da ansieht – wahrscheinlich versucht er auch, damit seinen Jagdtrieb zu befriedigen. Ich beobachte, wie mein Mensch darüber schreibt, dass AUGUST BURNS RED sich auch in einer Zeit ohne Live-Auftritte ihre Weihnachtsshow nicht nehmen lassen wollen und deswegen diesen Stream auf die Beine gestellt haben. Das sieht sich mein Dosenöffner also normalerweise an, wenn er nicht zuhause ist.

Indes kritisiert mein Mensch, dass sich die versuchte Animierung des imaginären Publikums zum Klatschen oder Mitsingen irgendwie surreal anfühlt und das redliche Bemühen von Fronter William, einen Draht zum Publikum aufzubauen um ein Interaktions-Feeling wie bei einer Liveshow zu übermitteln, durch den naturgemäß fehlenden Input in der leeren Halle nicht immer von Erfolg gekrönt ist. Dennoch scheint mein Mensch von dem gebotenen Geshredder und dem energiegeladenen Stageacting bestens unterhalten zu sein, was er auch in seinem Bericht darnieder schreibt.


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Weshalb der Stream „Christmas Burns Red“ heißt, wird mir erst klar, als mein Mensch erneut erwähnt, dass gegen Mitte der Show eine weitere wütende Weihnachtslied-Version zum Besten gegeben wird - „Winter Wilderness“, zu dem statt der bisher üblichen Logos eines der Bandmitglieder in aufreizender Pose in einem Weihnachtsmannkostüm eingeblendet wird, was bei meinem Menschen zu meinem kurzen Erschrecken einen heftigen Lachanfall verursacht. Ich finde es indes viel interessanter, dass auf der Bühne passend zum weihnachtlichen Thema winterliches Schneegestöber herrscht.

Was mein Dosenöffner an Grunzgranaten wie „Bloodletter“, welches die Band selbst als einen ihrer härtesten Songs beschreibt, weihnachtlich findet, wird sich mir niemals erschließen. Da finde ich persönlich schon eher den Abschluss des regulären Sets, „Ghost“, welches auch Clean Vocals verwendet, viel weihnachtlicher – weil doch Menschen zu dieser Jahreszeit ohnehin immer sehr sentimental werden. Gut, außer mein Sklave vielleicht, seine Vorlieben differieren ja ein wenig vom durchschnittlichen Geschmack unserer kätzischen Dienerschaft...

Während ich das Drumsolo, ob der vielen schnellen Bewegungen, die meine Pfoten schon wieder jucken lassen, sodass ich meine Krallen beherrschend in die Oberschenkel meines Menschen schlagen muss, sehr spannend finde, ist mein Dosenöffner ob der Abwesenheit jubelnder Massen während der Werkschau des Schlagzeugers ein wenig irritiert. Vielleicht war ich aber auch gerade ein wenig zu grob, also knete ich meinem Menschen beschwichtigend das Fleisch, während AUGUST BURNS RED einen weiteren vermetalcoreten (was für eine Wortschöpfung!) Weihnachtssong zum Besten geben. Dass Bassist Dustin im Weihnachtsmann-Outfit auf der Bühne gnadenlos abrockt scheint bei meinem Menschen wieder deutlich die Laune zu heben, während „White Washed“, das mich mit seiner Lichtshow erneut fasziniert, den endgültigen Abschluss der Show markiert.

Mein Mensch scheint sehr angetan von der Show zu sein, die auch in mir Interesse erwecken konnte. Doch so ganz glücklich scheint mein Dosenöffner nicht zu sein, irgend etwas scheint ihm dennoch zu fehlen. Ich kann es mir denken... aber bis dahin scheinen diese Streaming-Shows eine ganz gute Überbrückung zu sein, bis mein Mensch wieder einmal das Haus verlässt – und irgendwie habe ich so ja auch etwas davon. Nächstes Mal werde ich jedenfalls versuchen, eines dieser kleinen Männchen zu fangen...


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Fazit: Es ist ziemlich fett und extrem gut aufgezogen, was AUGUST BURNS RED da abgeliefert haben und macht auch wirklich Laune. Doch egal wie sehr sich die Band ins Zeug legt, egal wie opulent die Show und wie gut die Gesamtqualität – es fühlt sich einfach seltsam distanziert an, aufgrund der Abwesenheit jeglichen Publikums und dem daraus resultierenden Fehlen von Applaus und sonstigem akustischen Input, sogar distanzierter als eine der zahllosen Live-DVDs, die man von vielen Bands zur Genüge kennt. Ja, qualitativ hochwertige Livestreams wie jener hier von AUGUST BURNS RED sind vielleicht eine Überbrückung in seltsamen Zeiten wie diesen, aber werden nie echte Liveshows ersetzen können. Niemals.

 


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