Metal Church - XI

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VÖ: 25.03.2016
Bandinfo: METAL CHURCH
Genre: Heavy Metal
Label: Nuclear Blast GmbH
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Lineup  |  Trackliste

„Xi“ oder Ξ – sprich [ksi] ist der 14. Buchstabe des griechischen Alphabetes und ist nach dem milesischen Zahlensystem mit dem Wert 60 belegt. Ursprünglich stammt dieses abstruse Schriftzeichen von dem phönizischen Schriftzeichen Samech ab, aus welchem sich da außerdem noch das griechische Chi (für Techniker als X mit Alkschlagseite bekannt) ableitet. Ξ bezeichnet in der faszinierenden, wie auch verstörenden Welt der schrägen Kauze, die sich auf Differentialgleichungen und Integrale anstatt Frauen spezialisiert haben, unterschiedlichste Größen – so verbindet man mit "Xi" in der Raum- und Luftfahrt den „Querruderschlag“, in der Reaktorenphysik ein mittleres logarithmisches Energiedekrement, in der allgemeinen Wahrscheinlichkeitstheorie eine Zufallsvariabel (Herr. Prof. Wagner, falls Sie das jemals lesen, ja ihre Vorlesung hatte Erfolg, ich weiß das sogar noch ohne Skriptum), in der Geodäsie die Nord- und Südkomponenten der Lotabweichungen (vorausgesetzt die Erdkrümmung ist zu berücksichtigen, aber Hochhäuser sollen ja waagrecht stehen und nicht wie das X einen Alkschlagschatten aufweisen) und mein absolutes Highlight: In der klassischen Mechanik bezeichnet unser wunderbarer Buchstabe die Schraubungskoordinaten einer Starrkörperbewegung, als Vektor mit 6 Komponenten – hier wird ein weiterer Professor nun hoffentlich stolz auf mich sein. (Anm. d. Lekt: Chapeau! Für dieses grammatikalische Mordskonstrukt gibts einen Keks für den Terrier - und auch noch einen für jeden Leser, ders verstanden hat!) Das waren meine ersten - wenn auch zugegebener Weise sehr nerdig angehauchten - Gedanken zum plakativ angepriesenen Titel der sehnlich erwarteten neuesten METAL-CHURCH-Langrille.

Doch dann hat sich mein Deklamationsfehler offenbart: die San-Francisco-Kulttruppe betitelt hier keinesfalls diesen elementaren Buchstaben für Zahlenfreaks. Nein, sie meinen die römische Zahl „XI“ – Laichster, Groß- und Kleinschreibung beachten! Elf, welch einfallsreicher Titel für das ebenso zahlenwertige Album! Wobei Demos und Singles nicht der Gruppe der numeri integri zugeordnet werden und eine Begrenzung auf natürliche Zahlen beim Abzählen der Bandhistorie mehr als genügen müsste - negative Werte in der Albenzahl bestehen wohl nur imaginär in der Vorstellungskraft eines enttäuschten Fans. Und ganz ehrlich, wen hat METAL CHURCH wirklich schon einmal zutiefst enttäuscht – auch wenn „Generation Nothing“ (zum Review) nicht gerade das Gelbe vom hartgekochten Frühstücksei war… So gesehen war die Kirche des Metals noch nie von einer Austrittswelle ihrer fanatischen Anhänger bedroht und nun kommt auch noch der Messias höchst persönlich auf die Erde, um das Evangelium zu preisen! Ladies and Gentleman, kniet nieder und verneigt euch in Ehrfurcht, denn wir teilen euch mit: Mike „Gott“ Howe hat sich herabgelassen, um auf „XI“ zu beweisen warum er die Stimme des 80er-Kultes ist!

Gott ist ja eigentlich Morgan Freeman und so bleibt nur ein Schluss zulässig: Die heilige Dreifaltigkeit besteht aus dem profilierten Charakterdarsteller, seinem durchgeknallten Astrophysiker Harald Lesch (irgendwer musste diesen Urknall ja verursachen) und dem Hohepriester Howe. Dieser führt uns durch die Liturgie von „XI“ wie in seinen besten „Blessing In Disguise“-Zeiten - für dieses Stimmvermögen würde, im hier und jetzt, ein Warrel Dane sich wahrscheinlich nicht nur prostituieren, er würde wahrscheinlich dafür töten. Nichts für ungut Warrel, SANCTUARY ist immer noch absoluter Kult, aber du klingst mittlerweile echt wie eine Katze die über ein Reibeisen gescheuert wird - und kauf dir bitte mal anständige Kopfbedeckungen! Howe schaut übrigens auch nicht mehr aus wie damals, als er cool, ganz Sarah-Connor-Lookalike, das Mikro in der Wüste schupfte - böse Zungen behaupten er sehe jetzt H.P. Baxxter ähnlich – höhö, Hyper Hyper! Aber der Metal sitzt bekanntlich im Heart of Steel und dieses hat, trotz all des Wüstenstaubes, noch lange keinen Sand im Getriebe, denn das was uns Gottes-Stimme auf „XI“ präsentiert, gehört mit Abstand zum Besten was unser subkulturelles Universum zu bieten hat. Alleine diese Leistung müsste einem schon die Gänsehaut aufstehen lassen, doch textlich setzt man noch einen drauf und befindet sich wieder im sozialen Underground. Zukunftsängste, existenzialistische Fragen zum Sein und gesellschaftskritischer Subkontext - welcher subtil zwischen den Zeilen übermittelt wird und sich unweigerlich in das Gehirn des Hörers brennt und eigenständige Denkleistung befördert - prägen „XI“. Von der ersten bis zu letzten Minute wird das „Lost Generation Thema“ der 1980er in die Gegenwart transformiert und Parallelen gezogen, die leider immer noch traurige Gewissheit darstellen… All the kings, and all their kingdoms, pay the price for all your needs, all the kings and what they are doing, live your live and there will be no tomorrow!

Wie eine Linie zieht sich der kompositorische Charme alter Tage durch „XI“ und fesselt einen von der ersten Minute an – großartiges Old-School-Riffing, das an „The Dark“ und „Human Factor“ erinnert und dabei eine Vielschichtigkeit aufweist, wie schon lange kein Album mehr, das sich seine kreisenden Bahnen auf meinem Plattenteller gesucht hat. Push the button and reset! Sofort wird man hineingezogen, und sogar die ruhigeren Nummern, nennen wir sie soziologisch analysierende Balladen auf Basis eines universellen Schmerzes, haben in ihrer Subtilität noch mehr Punch als die meisten rudimentären Krawall-Bolzen. So stehe ich letztens mit meiner Karre im Stau, beschalle mich nun schon den dritten Tag mit „XI“ auf ultramaximaler, dem Kabelbrand nähernder Lautstärke, und nach fünf Minuten Stillstand neben einer Bushaltestelle wandert ein Unbekannter an meine Autoscheibe und erkundigt sich nach der gespielten Mucke. Nach Auskunft erfolgt die Versicherung, sich noch am selben Tag das Teil vorzubestellen – mehr Beweise müssen nicht vorgelegt werden!

Die Nadel sticht tief ins Fleisch, mit einer Mischung aus tödlicher Präzision und letaler Giftinjektion die dein Gehirn auf Drogen setzt – wenn „XI“ einmal auf dem Teller liegt, kann man nicht mehr davon lassen, man wird gezwungen wie ein Junkie der den nächsten Schuss sucht, sich die Scheibe immer wieder und wieder ins Cerebrum zu hämmern und hofft endlich den erlösenden goldenen Schuss zu erhalten. Doch METAL CHURCH sind gnadenlos, selbst nach dem dreißigsten Durchlauf entdeckt man immer noch Nuancen die einem bis jetzt verdeckt geblieben sind. Das liebe Leser, ist Komposition auf höchstem Niveau – auf den ersten Blick packend und fesselnd und ab dem zweiten Blick die eigentliche Schönheit entfaltend. „Blow Your Mind“ oder „Suffer Fools“ erscheinen so zuerst nur als Beiwerk zum übermächtigen „No Tomorrow“ und seinem Komplementärstück „Needle & Suture“, doch die Prioritäten der Platte verschieben sich bei jedem Durchlauf. Wenn man denkt, man hätte einen Song in seiner ganzen Komplexität und metaphysischen Darstellungskraft ergründet, so werden sich neue Abgründe auftun in die man unweigerlich hinabgezogen wird. Ich verneige mich ehrfürchtig vor dem Lebenswerk dieser Überband und der Fähigkeit nach 35 Jahren noch einmal ein solches Album zu erschaffen, das den kultbeladenen und bis zum Tode besungenen Klassikern um nichts nachsteht! Natürlich werden die Puristen wieder etwas zum nörgeln finden, wie bei jeder Kultband die in den 1980ern ihren Höhepunkt erlebte, um Anfang der 1990er vom Mainstream in die Versenkung gepresst zu werden, die Kultverehrung erzwingt dieses Dogma in den Köpfen all jener, die bis heute noch nicht im neuen Jahrtausend angekommen sind - jeder, der beim Konsumieren neuer Releases seine, durch Szenekult aufgezwungenen, Scheuklappen absetzen kann, wird mit "XI" das stärkste METAL CHURCH-Album seit "Hanging In The Balance" vorfinden... The Spirit is alive, we are back in the badlands! 

Anspieltipps:
- No Tomorrow
- Needle & Suture
- Blow Your Mind
- Suffer Fools



Bewertung: 4.5 / 5.0
Autor: Laichster (19.03.2016)

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